Gerade fällt es mir wie Scheunen von den Augen: Ich wollte doch beizeiten nochmal auf den ONOO–Zyklus eingehen, richtig? Also das Dingsbums in uns, das unsere Mitochondrien ärgert und kleckerhaft über den Körper verstreute Symptome verursacht. Müsste ich ein Bild aussuchen, um diesen fiesen Mechanismus zu beschreiben, würde ich sagen: Der ONOO–Zyklus ist, als hätte man eine Horde Rasenmäher verschluckt. Und genau die nehmen wir jetzt auseinander!


Alles in einen Topf

Werfen wir zu Beginn mal ein paar Krankheiten, die Menschen chronisch ärgern und erschöpfen können, in einen Topf und geben ihm Feuer. Ja, ich weiß, sowas macht man eigentlich nicht. Töpfe sind böse und jeder von uns ist ein Individuum und so weiter. Aber für einen Moment sei das mal erlaubt. Also: Alles, was dauerhaft erschöpft, was also unsere Mitochondrien drangsalisiert, kommt in einen Topf: Kopfgelenksinstabilität (CCI/AAI), Chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS), Golfkriegsyndrom (GWS), Multiple Chemikaliensensitivität (MCS), Fibromyalgie (FM), Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD; Kuklinski, 2018)… und was euch sonst noch einfällt. Gibt ja mehr als genug Chronisches und wie am Fließband werden neue Namen gefunden, um sich darüber unterhalten zu können (Myhill, 2018).
Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber meiner Meinung nach kann da kein Mensch mehr durchblicken. Deshalb: Topf. Aber keine Sorge, hierbei geht’s nicht allein um Pragmatik. Sondern ich stütze mich auf echte Erkenntnisse, die es mir erlauben, sämtliche der oben aufgeführten Erkrankungen (und weitere) als Synonyme zu betrachten, Synonyme, die nur deshalb so vielfältig sind, weil sie, obwohl der gleiche Mechanismus dahintersteckt, unterschiedliche Körperbereiche beeinflussen. Hier, wie schon angedeutet, ein paar bekräftigende Quellen:

  • In einer CFS-, MCS- und FM-Studie stellten Buchwald und Garrity (1994) fest: „Trotz ihrer unterschiedlichen diagnostischen Merkmale, und der limitierten Daten kann es sich bei diesen Syndromen um ähnliche wenn nicht identische Bedingungen handeln[…]
  • Donnay und Ziem (1999) bekamen heraus, dass „ CFS, FM und MCS nur unterschiedliche Aspekte einer gemeinsamen medizinischer Kondition widerspiegeln.“
  • Auch Kuklinski (2018) sieht unter anderem starke Parallelen zwischen CCI/AAI und CFS sowie viele Gemeinsamkeiten zwischen einer ganzen Bandbreite Multisystemerkrankungen.
  • Kersten (2009) beschreibt ebenfalls, „dass chronische Erkrankungen in der Regel Bestandteil von Multisystemerkrankungen sind, die als Konsequenz von Nitrosativem Stress und den dadurch ausgelösten erworbenen Mitochondriopathien in ihrer typischen Symptomenvielfalt zu verstehen sind.“

Bis hier hin einleuchtend? Wunderbar! Dann schauen wir uns gleich mal den gemeinsamen Nenner an, ok? Bitte schön:

Der ONOO–Zyklus in einfach. Und unvollständig. Aber immerhin einigermaßen verständlich. 😀 (Bild: wirbelwirrwarr)

Eine etwas schlüssigere, aber nicht unbedingt übersichtlichere Darstellung von Prof. Martin Pall findet ihr hier – obwohl ich meine Abbildung um Welten besser finde. 😉

Wie alles beginnt

Die Theorie hinter diesem Gemüsesalat, genannt ONOO–Zyklus, ist Folgende: Für die Entstehung einer der oben genannten Krankheitsbilder reicht theoretisch und praktisch ein einziger Stressor (Pall, 2009) und plötzlich beginnt eine hartnäckige und nicht zu stoppende Symptomlawine. Manchmal lässt sich diese Lawine mit einer Diagnose vereinbaren, doch ich behaupte: Viel öfter kommt es (zumindest anfangs) vor, dass die resultierenden rätselhaften Zustände einer angeknackste Psyche in die Schuhe geschoben werden. Wie sinnvoll sowas ist, das beleuchte ich an anderer Stelle.

In allen oben aufgeführten Erkrankungen (und auch noch in ein paar anderen) finden sich vermehrt Elemente dieses ONOO–Zyklus, was bedeutet, dass all diese Erkrankungen eine gemeinsame und biochemisch erklärbare Ätiologie (Ursachenzusammenhang) teilen. Das vereinfachte Muster der darin enthaltenen Elemente sieht so aus:

Stressor (meist kurzfristig) -> Stickstoffmonoxid (NO) + Superoxid (OO-) = Peroxynitrit -> chronische Erkrankung

Ein Definitiönchen

Kommt euch was bekannt vor? Kann es sein, dass wir es hier (mal wieder) mit Nitrostress zu tun haben? So ein Ding, oder? Deshalb: Für diejenigen, die neu hier sind und nichts damit anzufangen wissen, nochmal ein Definitiönchen:

Nitrostress ist die vermehrte Bildung von Stickoxid (verschiedene gasförmige Verbindungen wie zum Beispiel Stickstoffmonoxid (NO)), wodurch es zu Zellschäden (siehe Mitochondriopathien) und somit zu ernsthaften Erkrankungen kommt. Schlimmstenfalls reagiert NO mit Superoxid (OO-, das ist ein Sauerstoffradikal) zu Peroxynitrit (NO + OO- = ONOO-), ein gefährliches Zellgift, das den gesamten Organismus schädigt.

Mögliche Stressoren/Auslöser sind zum Beispiel:

  • Virusinfektionen
  • körperliche Traumata
  • körperliche Belastung
  • Toxoplasmose
  • Strahlenbelastung
  • bakterielle Infektion
  • psychische Belastung
  • instabile Kopfgelenke (Dancing Dens)
  • nitratreiche Ernährung (geräucherte Nahrungsmittel, mit Kunstdünger belastete Nahrungsmittel; Kersten, 2009)
  • Medikamente
  • kohlenhydratreiche Ernährung

Stressoren speziell für CFS wurden unter anderem von De Meirleir et al. (2002) zusammengefasst. Laut Pall (2010) sind insgesamt 17 bekannt, die Fälle einer oder mehrerer Erkrankungen anstoßen. Machen wir uns also nix vor: Theoretisch reicht ein Biss ins Nutellabrötchen.

Die Dominosteine fallen…

Wie ist es nun aber möglich, dass ein einzelner kurzfristiger Stressor ein solches Körperchaos entstehen lassen kann?

Der Stressor selbst ist hierbei eher als Mittel zum Zweck zu verstehen; als Finger, der das erste Dominosteinchen einer schon aufgebauten Kette umstößt. Alles was danach kommt, ist das Ergebnis eines endlosen Teufelskreises, der durch erhöhtes Peroxynitrit angetrieben wird.
Peroxynitrit ist Feuer und Kohle gleichermaßen. Theoretisch ist es auf nichts angewiesen, außer auf sich selbst, um mehr OO-, NO und somit sich selbst zu reproduzieren.

Kersten (2009) formuliert es natürlich wesentlich gekonnter: „Peroxinitrit stimuliert jene Enzyme (Nitritoxidsynthasen), die wiederum zu einer vermehrten Bildung von Nitritoxid führen, eben dem Stickstoffradikal, aus dem durch Verbindung mit dem Superoxidradikal das stark toxische Peroxinitrit gebildet wird.“

Doch damit ist die Sauerei längst nicht erklärt, wie das ONOO–Schema andeuten soll.

… bis nichts mehr übrig ist

Der etwas genauere Hergang (aber noch immer stark vereinfacht) beinhaltet folgende Eckpfeiler:

  • Bestimmte Vorgänge im Zitratzyklus der Mitochondrien werden gehemmt, es kommt zum Ausfall der ATP(Energie)-Produktion
  • es kommt zur Aktivierung einer Notstromversorgung, die allerdings nur ein 1/16 der üblichen Energie liefert
  • Dieser Mechanismus steigert das Krebsrisiko (Kuklinski, 2018; Kersten, 2009)
  • Konsequenz: körperlicher und geistiger Leistungsabfall
  • das Verlangen nach kohlenhydratreicher Nahrung steigt, es kommt in der Folge jedoch zu „Fressnarkosen“ (Thiem; Kuklinski, 2018; Kersten, 2009)
  • die nicht verwertbare Glucose wird umgewandelt in Fettsäure, was unter anderem das C-reaktive Protein erhöht
  • die intrazelluläre Säurebildung steigt, verschiedene Enzyme werden gebremst, Laktat, Pyruvat, Keton und Alanin steigen
  • es können Muskelschmerzen und -verhärtungen auftreten (Training wäre an dieser Stelle wie Benzin ins Feuer)
  • Proteine verändern sich und lösen Autoimmunkrankheiten aus (rheumatoide Arthritis zum Beispiel)
  • Flächendeckende Entzündungen entstehen
  • Mitochondrien werden zu „Freie-Radikal-Kanonen“ (Kersten, 2009; Kuklinski, 2018)
  • Cholesterin schießt in die Höhe
  • Gelenke, Bänder, Muskeln und Sehnen entzünden sich
  • bestimmte Rezeptoren des ZNS werden aktiviert, neurologische, psychische und vegetative Symptome entstehen, die Schmerzempfindlichkeit wird erhöht (FM)
  • NMDA-Rezeptoraktivierung führt zu Zelltod; es entstehen Alzheimer, Parkinson… (Rothman, 1983)
  • es kommt zu massivem Vitamin- und Mineralienverlust! Besonders Vitamin B12 wird durch NO zerstört, was die Anfälligkeit für neurologische Erkrankungen erklärt. B12 muss deshalb in Megadosen als direkter Scavenger von iNO und Peroxinitrit zugeführt werden! (Kersten, 2009).
  • Im weiteren Verlauf steigt das Risiko für Gefäßerkrankungen und Störungen zentralnervöser Funktionen
  • die Jodbindung wird blockiert -> Mangel an Schilddrüsenhormonen -> Hashimoto (Kuklinski, 2008)

Lieber doch einfacher

Einfach ist für unsere Zwecke gar nicht so verkehrt, oder? Deshalb gibt’s noch ein Beispiel:

Gehen wir mal davon aus, dass jemand eine Infektion bekommt, die wiederum Zytokine aktiviert. Zytokine sind Botenstoffe, die eine wichtige Rolle bei Entzündungsprozessen einnehmen, die aber auch einen Stickoxidanstieg bewirken. Nun kommen NO und OO- ins Spiel. Sie reagieren zu zerstörerischem Peroxynitrit. Peroxynitrit kann bestimmte Faktoren stimulieren, die erneut Zytokine entstehen lassen. In den Mitochondrien wiederum werden Enzyme und Rezeptoren blockiert, die normalerweise dazu da sind, Stickoxid zu dämpfen, woraus sich ergibt, dass davon mehr entsteht. Um es konkreter zu machen: Das gesamte Geschehen besteht aus einer großen Anzahl positiver Rückkopplungsschleifen, darunter 35 separate biochemische Mechanismen, die den Zyklus aufrechterhalten – egal, ob die Ursache noch existiert oder längst behoben wurde (Kersten, 2009)!

Die Frage ist: Was außer dem ONOO–Zyklus könnte die Gemeinsamkeiten so vieler komplexer und sich auf mysteriöse Weise stark ähnelnder Erkrankungen, wie CFS, MCS, FM, PTSD, erklären (Pall, 2007, 2009)? Fällt euch was ein? Falls ihr euch nicht so sicher seid, besorgt euch vielleicht auch Prof. Palls spektakuläres Buch „Explaining unexplained illnesses“, wo fast alles drin steht, was noch lange Zeit keiner richtig verstehen wird.

Die feinen Unterschiede

Wie oben schon ausklamüsert, ähneln sich Symptome zwar, sind aber niemals ein und dasselbe. Es gibt kleine, aber feine Unterschiede. Das liegt nach Kersten (2009) vor allem an der Unterschiedlichkeit der Stressoren, an der Konstitution der Betroffenen, der genetischen Disposition und letztendlich auch der Grenzenlosigkeit, die eine Mitochondriopathie ausmacht.

Kein Wunder also, dass so viele Namen für die resultierenden Störungen gefunden werden mussten und dass man sich als Betroffener trotzdem nie richtig verstanden fühlt.

Hier könnt ihr weiterstöbern.


Buchwald, D., & Garrity, D. (1994). Comparison of patients with chronic fatigue syndrome, fibromyalgia, and multiple chemical sensitivities. Archives of internal medicine, 154(18), 2049–2053.

De Meirleir K, De Becker P, Nijs J, et al. (2002). CFS etiology, the immune system, and infection. Chronic Fatigue Syndrome, A Biological Approach, CRC Press. 201-228.

Donnay A. & Ziem, G. (1999). Prevalence and Overlap of Chronic Fatigue Syndrome and Fibromyalgia Syndrome Among 100 New Patients with Multiple Chemical Sensitivity Syndrome. 1(5). 3-4.

Kersten, W. (2009). Paradigmenwechsel im Verständnis chronischer Zivilisationskrankheiten. Komplementäre und integrative Medizin. 50(4). 7-15.

Kuklinski, B. (2008). Praxisrelevanz des nitrosativen Stresses.

Kuklinski, B. (2018). Das HWS-Trauma – Ursachen, Diagnose und Therapie. Aurum.

Myhill, S. (2018). Diagnosis and treatment of chronic fatigue syndrome and myalgic encephalitis. It’s mitochondria not hypochondria. Chelsea Green.

Pall, M.L., (2009). Explaining unexlained illnesses. Disease paradigm for chronic fatigue syndrome, multiple chemical sensitivity, fibromyalgia, post-traumatic stress disorder, gulf war syndrome, an others. informa.

Pall ML (2009) Multiple Chemical Sensitivity: Toxicological Questions and Mechanisms.
Chapter XX in General and Applied Toxicology, Bryan Ballantyne, Timothy C. Marrs, Tore
Syversen, Eds., John Wiley & Sons, London.

Pall M.L. (2000) Elevated, sustained peroxynitrite levels as the cause of chronic
fatigue syndrome. Med Hypoth 54:115-125.

Pall M.L. (2000). Elevated peroxynitrite as the cause of chronic fatigue syndrome: Other inducers and mechanisms of symptom generation. J Chronic Fatigue Syndr2000;7(4):45-58.

Pall M.L. (2002). Levels of nitric oxide synthase product citrulline are elevated in sera of chronic fatigue syndrome patients. J Chronic Fatigue Syndr 10(3/4):37-41

Pall ML (2007) Nitric oxide synthase partial uncoupling as a key switching mechanism for
the NO/ONOO— cycle. Med Hypotheses 69, 821-825.

Pall, M.L. (2010). How Can We Cure NO/ONOO− Cycle Diseases? A Review. https://www.clinicaleducation.org/resources/reviews/how-can-we-cure-noonoo-cycle-diseases-a-review/

Rothman, S. (1983). Synaptic activity mediates death of hypoxic neurons. Science. 220: 536-538.


(Foto: Magda Ehlers – pexels.com, Bradyn Trollip – unsplash.com)