Anatomie für Nicht-Anatomen

Die meisten Leserinnen und Leser, die sich zu mir verirren, sind vermutlich zum größten Teil Ratsuchende und weniger medizinisch gebildet. Macht aber nichts, dafür gibt’s ja schließlich diesen Blog. Hier, wo ihr euch gerade befindet, werdet ihr so kurz und knapp wie möglich relevante anatomische Grundlagen kennenlernen, die euch helfen, CCI/AAI besser zu verstehen.


Der menschliche Schädel. (gregroose – pixabay.com)

Beginnen wir mal oben

Was ihr hier seht, ist ein menschlicher Kopf. Ausgewachsen bringt er durchschnittlich sechs Kilo auf die Waage – also etwa so viel wie sechs volle Mehltüten. Augen, Ohren, Nase und Mund und somit vier unserer wichtigsten Sinneszentren sind in unmittelbarer Nähe zum Gehirn stationiert, wodurch unser Kopf zugleich als Informationssender als auch -empfänger fungieren kann. Um ankommenden Reizen mit größtmöglicher Flexibilität größtmögliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, muss das Podest unseres Kopfes, also unser Hals, besonders schmal und wendig konstruiert sein. Gleichzeitig müssen durch diese enge Passage allerhand Signale sausen, die:

  • vom Hirn in die Peripherie des Körpers ausgesendet werden
  • aus der Peripherie ins Hirn gelangen
  • aus der Umwelt ins Hirn gelangen
  • aus dem Hirn, über die Peripherie, in die Umwelt gelangen

Wie jedes andere Organ benötigt auch das Gehirn mit Sauerstoff angereichertes Blut, um seine Funktionen ausführen zu können. Die wichtigsten Bluttransportbahnen verlaufen ebenfalls durch den Hals und heißen:

  • Arteria carotis interna: Sie entstammt auf Höhe des vierten Halswirbels der Arteria carotis communis.
  • Arteria vertebralis: Sie durchzieht die Foramina transversaria (das sind kleine Öffnungen in den Querfortsätzen der Wirbelkörper) des ersten bis sechsten Halswirbels. Beide Vertebralarterien verbinden sich zur Arteria basilaris. Diese versorgt das Kleinhirn, den Hirnstamm, die Seh- und Hörzentren, das Innenohr und den Hippocampus.
So weit, so grob zur Blutversorgung des Gehirns. (Foto: Grays Anatomy – 1918)

ZNS und PNS

Die Wirbelsäule bildet, wie der Name bereits andeutet, die Hauptsäule unseres Körpers und verbindet alles mit allem. Sie besteht aus insgesamt 24 Wirbelkörpern, zwischen denen 23 Bandscheiben als Stoßdämpfer funktionieren. Jeder Wirbelkörper besitzt in der Mitte ein Loch. Dieses Loch bildet zusammen mit den anderen Löchern der restlichen Wirbelkörper übereinander aufgereiht den Wirbelkanal, durch den das Rückenmark verläuft. Das Rückenmark wiederum ist metaphorisch umschrieben unsere Hauptstromleitung und bildet zusammen mit dem Gehirn das Zentrale Nervensystem (ZNS). Nerven, die vom Rückenmark in die Peripherie ziehen, bilden das Periphere Nervensystem (PNS), welches sich aus dem Somatischen Nervensystem (zuständig für die Steuerung der Skelettmuskulatur) und dem Autonomen Nervensystem (ANS) zusammensetzt. Das Autonome Nervensystem wiederum untergliedert sich in Sympathikus (wird aktiv bei Gefahr), Parasympathikus (wird aktiv, sobald die Gefahr vorbei ist) und Enterisches Nervensystem (unser Bauchhirn).

Sympathikus und Parasympathikus

Der Teil des Peripheren Nervensystems, der nicht unserer willkürlichen Kontrolle unterliegt, heißt Autonomes Nervensystem, auch bekannt als Vegetatives Nervensystem. Es ist verantwortlich für lebenswichtige Körperprozesse, wie beispielsweise die Herzaktivität, Atmung, Blutdruck, Verdauung, die Schweißregulation, Stoffwechselvorgänge und die Augenmuskulatur.

Die Aufgabe des Sympathikus ist es, uns zu aktivieren. In potentiellen Gefahrensituationen beschleunigt er unseren Herzschlag und die Atmung, erhöht unseren Blutdruck und drosselt die Verdauung.

Als Gegenspieler des Sympathikus fungiert der Parasympathikus als deaktivierender Part und verhilft uns zur Rückkehr in einen entspannten Zustand. Er verlangsamt die Atmung und den Herzschlag und kurbelt die Verdauung an.

Das ANS in all seiner Pracht. (Bild: wirbelwirrwarr)

Das Enterische Nervensystem ist Teil des Verdauungssystems. Es ist gemeinhin als Bauch- oder Darmhirn bekannt und arbeitet unabhängig vom Gehirn. Sein Aktivwerden bemerken wir beispielsweise, wenn wir spüren, dass unser Bauch uns etwas mitteilen möchte – zum Beispiel eine Sache zu tun oder zu lassen.

Die Wirbelkörper

Jeder Mensch besitzt in der Regel sieben Halswirbel, zwölf Brustwirbel und fünf Lendenwirbel. Abgesehen von den ersten beiden Halswirbeln entsprechen sämtliche Wirbelkörper einem festen Bauplan. Sie bestehen aus einem Wirbelkörper, einem Wirbelbogen, Quer-, Gelenk- und Dornfortsätzen. Abhängig von ihrer Position lassen sich an Wirbelkörpern verschiedene Besonderheiten entdecken. Brust- oder Lendenwirbel sind zum Beispiel viel größer und massiver als Halswirbel, da sie viel mehr an Gewicht tragen müssen.

Gut zu wissen: Die Wirbelsäule lässt sich in drei Säulen unterteilen (Drei-Säulen-Modell nach Denis zur Beurteilung der Stabilität der Wirbelsäule):

  • eine ventrale Säule (grün) mit dem vorderen Längsband, dem ventralen Anulus fibrosus und den vorderen Zweidritteln des Wirbelkörpers
  • eine mittlere Säule (rot) mit dem hinteren Längsband, dem dorsalen Anulus fibrosus und der Wirbelkörperhinterwand
  • eine dorsale Säule (lila), die alle Strukturen posterior des hinteren Längsbandes umfasst (Dornfortsätze, kleine Wirbelgelenke, Bogenwurzel, Lig. supra- u. interspinale, Lig. flavum).
Dreisäulenmodell nach Denis zur Beurteilung der Stabilität der Wirbelsäule (Bild: hkgoldszein0 – pixabay.com, picsart)

Zwischen den Wirbelkörpern sind besondere Schutzapparate angelegt, die sogenannten Bandscheiben. Diese fungieren als Abstandshalter und Stoßdämpfer. Bandscheiben sind zusammengesetzt aus einem harten äußeren Faserring und einem weichen inneren Gallertkern. Nachts, wenn wir liegen, saugt sich der Gallertkern mit Wasser voll, regeneriert sich also, um bei aufrechter Haltung wieder als Puffer einsatzbereit sein zu können.

Die Wirbelsäule. (Foto: GDJ – pixabay.com)

Die Kopfgelenke

Mich hat mal jemand verwundert gefragt: „Der Kopf besitzt Gelenke?!“ Gemeint sind die Kopfgelenke, die den Übergang vom Schädel zur Wirbelsäule bilden. Das erste Kopfgelenk heißt Articulatio atlantooccipitalis oder auch Atlanto-okzipital-Gelenk (da es den Occiput, also den Hinterkopf, mit dem ersten Halswirbel, dem Atlas, verbindet). Das zweite Kopfgelenk heißt Articulatio atlantoaxialis oder auch Atlanto-axial-Gelenk und sitzt zwischen Atlas und dem zweiten Halswirbel, dem Axis.

Atlas und Axis unterscheiden sich von allen anderen Wirbelkörpern in mehreren Punkten, wovon drei lauten:

  • Zwischen Atlas und Axis befindet sich keine Bandscheibe.
  • Der Atlas besitzt weder Wirbelkörper noch Dornfortsatz, stattdessen aber seitlich liegende knöcherne Verdickungen.
  • Der Axis besitzt eine knöcherne Spitze, den sogenannten Zahn des Axis oder auch Dens axis, der den ringförmigen Atlas durchstößt und wie eine Achse die Rotation des Kopfes ermöglicht

Atlas und Axis bilden ein Team und verschaffen dem Kopf ein beträchtliches Bewegungsausmaß. Zwischen diesen beiden Wirbeln findet die größte Bewegung der gesamten Wirbelsäule statt – durchschnittlich 36° nach rechts und links. Das sind 50% der gesamten HWS-Rotation, und das in nächster Nähe zum Hirnstamm, wo die Atmung gesteuert, der Blutkreislauf reguliert und wichtige Reflexe ausgelöst werden. Störungen innerhalb dieses Bereichs können sich also gravierend negativ auf eine Vielzahl wichtiger Körperfunktionen auswirken.

Die Bänder der Kopfgelenke

Das obere und das untere Kopfgelenk sind durch Bänder gesichert, um Bewegungen zu verhindern, die für das Rückenmark schädlich sein können. Zu ihnen zählen:

  • Membranae atlantooccipitalesi anterior ( = eine bandartige Verstärkung im ventralen (Richtung Bauch) Abschnitt des Atlantookzipitalgelenks zwischen vorderem Atlasbogen und Hinterhauptbein)
  • Membranae atlantooccipitalesi posterior ( = eine bandartige Verstärkung im dorsalen (Richtung Rücken)  Abschnitt zwischen hinterem Atlasbogen und Kopf)
  • Ligamenta alaria (Flügelbänder) verbinden den Kopf mit dem Atlas und verhindern eine zu starke Drehung des Kopfes. Der Lateral-Shear-Test kann Hinweise auf defekte Ligg. alaria liefern.
  • Ligamenta cruciforme hemmen ein übermässiges Drehen und Kippen im unteren Kopfgelenk.
  • Das Ligamentum transversum atlantis wiederum spaltet das Foramen vertebrale des Atlas (also das Loch, durch das das Rückenmark verläuft) in zwei Abschnitte. In Abschnitt eins (vorn) befindet sich der Dens axis (der Zahn des zweiten Halswirbels), in Abschnitt zwei das Rückenmark. Das Ligamentum transversum atlantis verhindert, dass der Dens axis bei Bewegung in das Rückenmark vordringt. Der Sharp-Purser-Test und der Transverse Ligament Test (Osmotherly et al. (2012) können Hinweise auf ein defektes Lig. transversum liefern, sind aber mit Vorsicht zu genießen.

Was passiert also, wenn das Ligamentum transversum atlantis zu locker ist? Antwort: Es kommt zu einer zu starken Bewegung von Atlas und Axis, sobald der Kopf nach vorn gebeugt ist.

Atlas von „oben“. (Bild: wirbelwirrwarr)

Und was passiert, wenn die Ligamenta alaria/ein Ligamentum alare zu locker ist? Antwort: Dann kann es passieren, dass der Atlas sich zu stark auf den Axis dreht, da der Axis nicht länger in zentraler Position gehalten werden kann. Bei Seitneigung des Kopfes können Atlas und Schädel zudem zu weit auseinandergleiten. Es kommt ferner zum Abrutschen des Atlas zu einer Seite auf den schrägen Gelenkflächen des Axis.

Eine atlantoaxiale Lateralisierung (Tendenz zur Seite) zeigt sich in Seitenneigung. Dabei sieht man in entsprechender Bildgebung, wie sich der Abstand zwischen lateraler Densbegrenzung und der auf der gleichen Seite befindlichen (ipsilateral) Massa lateralis atlantis-Begrenzung der »Gelenkspalt« verringert.

Die Hirnnerven

Jeder Mensch besitzt zwölf Hirnnerven. Diese gesellen sich jedoch nicht zu den anderen peripheren Nerven ins Rückenmark, sondern entspringen im Bereich der Kopfgelenke direkt dem Hirn und innervieren den Kopf- und Halsbereich, den Brustkorb und den Bauch. Sie heißen:

  • N. olfactorius (I) (Riechnerv)
  • N. opticus (II) (Sehnerv)
  • N. oculomotorius (III) (Nerv für Augenbewegungen)
  • N. trochlearis (IV) (Abrollnerv)
  • N. trigeminus (V) (Drillingsnerv)
  • N. abducens (VI) (Abziehnerv)
  • N. facialis (VII) (Gesichtsnerv)
  • N. vestibulocochlearis (VIII) (Gleichgewichts- und Hörnerv)
  • N. glossopharyngeus (IX) (Rachen- und Zungennerv)
  • N. vagus (X) (größter Nerv des Parasympathikus)
  • N. accessorius (XI) (hinzukommender Nerv)
  • N. hypoglossus (XII) (Unterzungennerv)

Mit Ausnahme der ersten beiden Hirnnerven (I: N. olfactorius, II: N. opticus) gehören sie zum peripheren Nervensystem (obwohl Hirnnerv I und II letztendlich eben doch dazu gerechnet werden).

Da viele Hirnnerven in Ganglien (Ansammlungen von Nervenzellkörpern) miteinander vernetzt sind, können bei einer durch eine Kopfgelenksinstabilität verursachten chronischen Reizung von Nervengewebe etliche scheinbar zusammenhanglose Symptome simultan auftreten und Mediziner vor ein Rätsel stellen.

Beeinträchtigungen des N. oculomotorius, des N. abducens und des N. trochlearis führen beispielsweise zu einer gestörten Pupillen- und Augenbewegung. Doppelbilder, Augenflimmern, Schleier, Punkte oder partiell auftretende blinde Flecken sind neben Lichtempfindlichkeit und gestörtem Farbsehen nur einige von vielen möglichen Symptomausprägungen.


Fotos: Menschliche Wirbelsäule – Henry Gray (1918). Anatomy of the Human Body


Osmotherly, P. G., et al. (2012). The anterior shear and distraction tests for craniocervical instability. An evaluation using magnetic resonance imaging. Manual therapy17(5), 416–421. https://doi.org/10.1016/j.math.2012.03.010

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen