Ein chronisch kranker Körper fühlt sich an wie ein einsturzgefährdetes Zuhause, aus dem man nicht ausziehen kann. Rund um die Uhr muss man aufpassen, nicht von abstürzenden Deckenteilen erschlagen zu werden oder beim Reparieren kein weiteres Loch in den morschen Boden zu treten – ein Fulltimejob. Für anderes, wie ein Studium, ist da kein Platz. Oder doch?


Die Sache mit den Entscheidungen

Als ich konnte, ließ ich es, und als ich nicht mehr konnte, tat ich es trotzdem. So ungefähr könnte man sich mein bisheriges Leben und meine darin getroffenen Entscheidungen vorstellen, besonders in Bezug auf meine Ausbildung(en) – wobei die Sache mit den Entscheidungen ziemlich lange auf sich warten ließ. Bei der Wahl zwischen A oder B lief es bei mir nämlich prinzipiell darauf hinaus, dass ich den Schwanz einkniff, um bloß nicht wieder ins Fettnäpfchen zu treten – was übrigens der mit Abstand älteste und auch machtvollste Glaubenssatz ist, den ich mit mir herumschleppe. Denn als Kind wurde mir gefühlt rund um die Uhr signalisiert: Du hast es mal wieder verbockt.
Wozu also irgendwelche Versuche starten? Geht doch sowieso schief. Ein Studium war deshalb immer ganz weit weg für mich, sozusagen so unerreichbar wie ein Teekränzchen mit Angela Merkel (allerdings bei Weiterem nicht so ungewollt).

Für mich zählt nur das Jetzt

Aber ich will nicht jammern oder mich wehleidig im Gestern suhlen. Meine Art von damals ist heute eine andere, denn seit einer Weile beschäftigt mich eigentlich nur noch das Jetzt. Und jetzt, auch wenn ich es lange Zeit nicht für möglich hielt, bin ich Master-Studentin der Psychologie. Wie es dazu kam? Na, indem ich nicht länger vor Entscheidungen weglief, sondern endlich anfing, sie zu treffen.

Zu verdanken habe ich das ausgerechnet meinem Kranksein, das mir zwar viele Schwierigkeiten bereitet, mir andererseits aber auch zu einem ganzen Batzen Motivation verhilft und hin und wieder auch meinen Stolz triggert, nach dem Motto: Wenn mich einer bremst, dann bin ich das, nicht irgendein körperliches Gebrechen. Hat ein bisschen was von umgekehrter Psychologie, nicht wahr? 😉

Hat ja lange genug gedauert

Und jepp, ihr habt’s erfasst: Mein Bachelor-Abschluss ist endlich geschafft (nachdem meine Arbeit vier Monate lang korrigiert wurde :D). Hat ja auch lange genug gedauert. Aber was soll’s, CCI legte mir nun mal allerhand Steine in den Weg, ebenso das Mama-Dasein. Richtig Fahrt aufnehmen konnte ich somit erst etwa ein Jahr nach der Geburt unseres Sohnes, und zwar an der Fernuniversität Hagen. Für mich war das die beste Entscheidung, denn mit meinem Krankheitsbild – zumindest so, wie ich es erlebe – ist eine Präsenzuni absolut ausgeschlossen. Doch taugt so ein Fernstudium? Wie ist das denn mit Klausuren? Und gibt’s hier und da vielleicht ein Entgegenkommen, wenn man chronisch krank oder behindert ist?

Fernuniversität Hagen

Erstmal vorab: Man kann’s nicht jedem recht machen. Die Fernuni Hagen (FUH), bekannt dafür, die größte Uni Deutschlands zu sein (jedenfalls gemessen an der Zahl ihrer Studierenden), bildet da keine Ausnahme. Die einen preisen das Fernstudium, die anderen schimpfen darüber. Ich selbst muss sagen: Ich hatte und habe ganz einfach keine andere Wahl und mach wie immer einfach das Beste draus. 😉

Aber mal im Ernst: Online-Vorlesungen haben was. Man kann sie beliebig oft zurückspulen, bis man den Kern der Sache verstanden hat – oder eben auch nicht. Allerdings bot nicht jedes meiner Module sowas Cooles. Manchmal gab’s eben auch nur ein rasch zusammengeschustertes Skript und dazu ein Bündel Aufgaben, die als Prüfungsvorleistung deklariert wurden. Friss oder stirb, kam mir dann oft in den Sinn, wobei ich das nicht krumm sah. Ein Studium ist nun mal keine Ausbildung, was aber nicht heißen soll, dass ich Ausbildungen für anspruchslos halte. Denke ich allerdings an meine Zeit als Ergotherapie-Schülerin, als es in der Klasse regelmäßig Theater gab, sobald eine kleine Kontrolle über gerade mal zwei Seiten Inhalt anstand… Also bitte, wenn man auf Menschen losgelassen werden möchte, sollte man bereit sein, sich was über Menschen beibringen zu lassen. Aber das ist ein anderes Thema. Der Punkt ist: Ich schätze alles, was mir Freiraum lässt, in meinem Tempo zu lernen, auch wenn das bedeutet, dass ich mir Informationen strikt selbst beschaffen und erarbeiten muss. Der Rest spielt nur eine untergeordnete Rolle.

Kleine und große Hürden

Studierende an der FUH werden also mal mehr und auch mal weniger mühevoll bei Laune gehalten, doch so oder so: Ich musste schon ein wenig Durchhaltevermögen mitbringen und wenn möglich jeden Tag meinen Stoff durchackern, um mich so geschickt wie möglich an meinen Lernzielen entlangzuhangeln. Klappte mal besser, mal schlechter. Für Klausuren ging es dann nach Leipzig, also in eines der vielen Regionalzentren. Das war, solange wir dort wohnten, ziemlich entspannt, doch nach dem Umzug gab es allerhand zu planen sowie lange Autofahrten – wobei es natürlich immer schön war, die alten Freunde wiederzusehen. Mal sehen, wie sich das im Master gestalten wird.

Anfangs schrieb ich noch vier Stunden am Stück, später verkürzte die Uni die Prüfungsschreibzeit auf anderthalb Stunden, wodurch Fehler automatisch etwas mehr Gewicht bekamen. Bei einer Bestehensgrenze von 75% (noch so eine raffinierte Art, Fernstudierende zu ärgern, denn normalerweise liegt die Hürde für eine 4,0 an Präsenzunis bei 50%) keine leichte Aufgabe. Aber ich nahm das gern in Kauf, da langes Sitzen für mich einen gewaltigen Kraftakt bedeutet – und da ist noch nichts zu Papier gebracht. Nicht zu reden vom vielen Stress, der jedes Mal auf mein schutzloses Hirn niederregnete. Pandemiebedingt schrieb ich ein oder zwei Klausuren aber sogar mal zu Hause, am Esstisch, umgeben von all meinen Aufzeichnungen und Büchern. Doch wer glaubt, dass es dadurch leichter wurde, irrt. Klausurfragen an der FUH können böse sein. Richtig böse. 😉

Nachteilsausgleich?

Sicherlich hätte mir aufgrund meiner chronischen Erkrankung hier und da der eine oder andere Nachteilsausgleich zugestanden. Zum Beispiel besteht für kranke oder behinderte Studierende die Möglichkeit, Klausuren abseits der Gruppe in einem gesonderten Raum (und natürlich trotzdem unter Aufsicht) und unter Berücksichtigung ihrer individuellen Bedürfnisse (Blindenschrift, weniger oder mehr Licht, spezielle Tischapparaturen usw.) schreiben zu dürfen. Ich nahm nichts davon in Anspruch. Bis auf dieses eine Mal, als ich unbedingt einen Platz für ein Online-Seminar bekommen wollte, wofür insbesondere Behinderte und chronisch Kranke präferiert werden. Nochmal acht Stunden in Präsenz in einem stark beleuchteten Raum hocken müssen, das wollte ich unbedingt vermeiden. Denn nach sowas war ich immer fix und fertig und brauchte erstmal einige Wochen bis Monate Schonung. 😀

Es finden sich Lösungen

So, aber ich will mich nicht in Details verstricken und dieser Text soll auch keine Vorstellrunde der FUH werden. Es geht mir eher darum, zu zeigen, dass selbst mit Krankheit oder Behinderung ein Studium nicht ausgeschlossen sein muss. Klar ist, dass immer geschaut werden sollte, welche individuellen Bedürfnisse man mitbringt und ob und wie eine Uni diese berücksichtigen kann. Der Gleichstellungsbeauftragte ist da zum Beispiel ein guter Ansprechpartner. Wichtig ist auf jedem Fall der Wille zu studieren, für den Rest finden sich Lösungen – auch an Präsenzunis.