Seid ihr im Netz schon mal einem dieser selbsternannten Experten begegnet, die nichts besseres zu tun haben, als die Diagnosen anderer in Zweifel zu ziehen? Besonders irritierend: Oft handelt es sich dabei um Mitbetroffene. Aber muss Peer Gaslighting wirklich sein?


Peer Gaslighting

Es gibt ja schon einen Begriff dafür, wenn Ärzte und andere Mitarbeiter aus dem medizinischen Bereich die Beschwerden eines Patienten herunterspielen, Medical Gaslighting. Wie könnte man es aber nennen, wenn Mitbetroffene das tun? Peer Gaslighting? Ich glaube, so heißt das wirklich. Wenn nicht, ist es aber auch nicht schlimm.

Innerhalb unserer Community begegnet mir dieses Phänomen jedenfalls leider viel zu oft und ich frage mich: Können wir uns nicht einfach gegenseitig mit Respekt und Anstand begegnen, als uns Aufgaben aufzubürden, die zum einen ziellos und zum anderen gar nicht die unseren sind? Leute und ihre Symptome auf „Echtheit“ zu durchleuchten zum Beispiel. Sie ins Kreuzverhör zu nehmen. Ihre Geschichten und Erfahrungen anzuzweifeln. Hört doch auf damit. Nutzt die Kraft lieber, um möglichst gut zu leben.

Damit muss man leben

Wisst ihr, wie oft es passiert, dass Ärzte falsche Diagnosen stellen? …Ich auch nicht. Aber diese Information bleibt ohnehin verschleiert, weil sie zum Beispiel davon abhängt, dass solche Irrtümer erst offiziell gemeldet und untersucht werden müssten. Die Gewissheit, dass sowas allemal vorkommt, muss uns also ausreichen. Ebenso wie es zuweilen vorkommt, dass Laien davon überzeugt sind, eine Erkrankung zu haben, die sie nicht haben, oder dass bestimmte Erkrankungen sich bei Einzelnen anders darstellen als bei der Mehrheit der Betroffenen. Das ist einfach so, sollte aber definitiv keinen Grund darstellen, auf der Lauer zu liegen. Wer von uns hat schon die Kompetenzen, anderen die „richtige“ medizinische Schublade zuzuweisen? Wer besitzt überhaupt das Recht dazu? Ich meine, wenn schon Ärzte ihre Probleme damit haben…

Die richtige Schublade finden? Wer kann das schon. (Bild: wirbelwirrwarr)

Wie Wolkengucken

Wenn Leute ihren Senf zum gesundheitlichen Status anderer abgeben, erinnert mich das ein bisschen an früher, als ich mich mit Freunden ins Gras gelegt und wir gerätselt haben, welche Bilder uns die Wolken in Himmel zeigen. Einer rief „Pferd!“, der nächste „Kuh!“ und ein anderer „Gießkanne!“ Keiner hatte Recht oder Unrecht, es ging nur darum, Spaß zu haben. Und alle wussten und akzeptierten das. Bei Peer Gaslighting ist das leider anders.

In manchen Fällen kann es innerhalb von Gruppen von Miterkrankten zu einem Hierarchiegefühl kommen, bei dem einige sich als „Experten“ oder „Vorbilder“ sehen. Dies kann dazu führen, dass sie die Erfahrungen anderer abwerten oder anzweifeln.

Mutmaßungen und Wolkengucken haben gewisse Gemeinsamkeiten. (Bild: wirbelwirrwarr)

Mir gegenüber fallen oft Sätze, wie: „Du bist nicht krank, du hast höchstens eine psychosomatische Störung.“ Oder: „Du kannst gar nicht wissen, wie das ist, wenn man richtig krank ist. Ich bin fast jede Woche beim Arzt.“ Oder: „Du hast keine instabilen Kopfgelenke. Du bist viel zu aktiv und ohne Operation kannst du das sowieso nicht haben. Du hast bestimmt nur Wirbelgleiten.“ (Ja mei, endlich weiß ich es!)

In Gruppen von Menschen mit ähnlichen Erkrankungen kann es zu einer Art „Wettbewerb um Leiden“ kommen, bei dem einige versuchen könnten, ihre eigenen Erfahrungen als schlimmer oder schwerwiegender darzustellen, um mehr Aufmerksamkeit oder Unterstützung zu erhalten. Dies kann dazu führen, dass sie die Erfahrungen anderer herabsetzen.

Was ich davon halte? Gar nichts. Dass es mir mittlerweile gut geht, ist doch wohl kein Verbrechen, sondern etwas, was Leuten Mut machen könnte. Wenn sie sich darauf nicht einlassen wollen oder können, ist das vollkommen ok. Aber es stellt, wie ich finde, keinen guten Grund dar, anmaßend zu werden oder mir Schwarzmalerei aufzwingen. Ich für meinen Teil halte mich eben lieber am anderen Ufer auf und bin und bleibe dort unerschütterlich davon überzeugt, dass jede Erkrankung heilen kann – auch wenn manchen Menschen damit nicht geholfen ist. Ich zwinge diese Ansicht niemandem auf. Mir half sie durch schlimme Zeiten und das ist auch schon alles.

Menschen entwickeln unterschiedliche Bewältigungsstrategien, um mit ihren Erkrankungen umzugehen. Einige könnten sich darauf konzentrieren, positiv zu denken, während andere stärker von Ängsten oder Sorgen geprägt sind. Dies kann zu Missverständnissen und Konflikten führen.

OP, OP, OP

Die berühmt-berüchtigte Versteifungsoperation an den Kopfgelenken ist für mich, ich erwähnte es bereits, keine Lösung, sondern ein Rettungsboot. Und ja, manch einer ist darauf angewiesen – das bezweifle ich gar nicht.

Die Versteifung der Kopfgelenke ist jedoch kein auszeichnendes Merkmal, um die Diagnose instabile Kopfgelenke tragen zu dürfen! Wer das glaubt, hat einiges nicht richtig verstanden. Vor allem dass CCI/AAI eines der facettenreichsten Krankheitsbilder überhaupt ist. Es gibt nicht „die“ Ursache oder „die“ Symptome. Es gibt ja nicht einmal „die“ Parameter, weil dazu einfach noch viel zu viel Uneinigkeit unter den wenigen Experten herrscht. Ganz sicher aber gibt es insgesamt sehr viele Möglichkeiten, diese Erkrankung zu händeln, auch wenn manche davon noch im Verborgenen liegen oder sehr unwahrscheinlich erscheinen. Damit sollte man sich aber auseinandersetzen, bevor man auf dem OP-Tisch liegt – wenn möglich. Das geht aber nicht, wenn man felsenfest glaubt, nicht dazuzugehören.

Ein Mangel an Wissen über die Vielfalt der Auswirkungen einer bestimmten Erkrankung kann dazu führen, dass Menschen nicht erkennen, wie unterschiedlich die Symptome und Schweregrade sein können. Dies kann zu mangelnder Sensibilität gegenüber den Erfahrungen anderer führen.

Es braucht Zusammenhalt

Also bitte: Untergrabt nicht das Leid derer, die täglich schlimme Symptome aushalten müssen, nur weil sie anders oder scheinbar weniger leiden müssen als ihr. Oder weil sie nach Meinung eines Spezialisten vielleicht noch nicht stark genug betroffen sind, um operiert zu werden. Dazu sollte es bestenfalls ja auch gar nicht kommen!

Obwohl man erwarten könnte, dass Menschen in ähnlichen Situationen empathischer sind, ist dies nicht immer der Fall. Einige könnten Schwierigkeiten haben, sich in die Lage anderer zu versetzen, weil sie so stark mit ihren eigenen Herausforderungen beschäftigt sind.

Aber das Leid anderer ist trotzdem da. Da braucht es keine Experten, die aus der Ferne mit Mutmaßungen glänzen wollen. Da braucht es Hoffnung, denn ohne Hoffnung gibt’s auch keine Heilung. Und es braucht Anerkennung und Zusammenhalt. Besonders aus den eigenen Reihen. Außerhalb ist man schließlich schon aufgeschmissen genug.