Chronische Krankheiten sind gar nicht so selten. Man geht davon aus, dass sich ungefähr die Hälfte aller Erwachsenen mit mindestens einer davon rumschlagen muss (Anderson, 2004). Schon Dodge (1970) wusste: Oftmals hat übermäßiger ooStress damit zu tun. …Klingt irgendwie nach einer bequemen Erklärung, an der man lieber zweifeln sollte, was? Besonders als Instabilo! Ich für meinen Teil zweifle lieber nicht zu sehr.


Heute sezieren wir den Stress

Worüber reden wir eigentlich, wenn wir den Begriff Stress in den Mund nehmen? Ist es dieses unangenehm aufrührende Gefühl, sobald unser Kopf unter Wasser steht? Ist es das, was unser Körper macht, wenn er versucht, uns am Leben zu halten? Wie kann Stress dann bitte krank machen? Ist es vielleicht die Situation? Zeitmangel? Hat Stress eigentlich immer mit Leistungshürden zu tun? Oder kann Stress sogar entstehen, wenn wir glücklich sind? Fragen über Fragen…

Eines ist jedenfalls ganz klar: Stress ist nicht gleich Stress. Je nachdem, welche Theorie man sich hernimmt, ist er:

  • eine Reaktion auf Umweltanforderungen (Cannon, 1930)
  • ein universeller Abwehrmechanismus zur Energiebereitstellung (Selye, 1936)
  • eine Neuanpassung an kritische und/oder alltägliche Stressoren
  • eine Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt (Lazarus, 1966)
  • ein drohender oder tatsächlicher Verlust von Bewältigungsressourcen bzw. deren Fehlen (Hobfoll, 1988)

Lazarus und Selye

Die unter Forschern beliebteste Theorie ist die Transaktionale Stresstheorie von Lazarus (1966). Stress entsteht hiernach durch eine Wechselwirkung zwischen Person und Situation, was zum Beispiel ganz gut erklärt, weshalb verschiedene Menschen ein und dieselbe Situation unterschiedlich stressig erleben: Nicht die objektiven Reize sind ausschlaggebend, sondern deren subjektive Bewertung. Diese ergibt sich aus der wahrgenommenen „Schlimmhaftigkeit“ der Stressoren und der Möglichkeit, diese zu bewältigen – oder auch nicht. Wie genau das funktioniert, könnt ihr, wenn ihr mögt, in den Quellen nachstöbern.

Cannon (1930) beschrieb Stress vor allem mit Hilfe des fight-or-flight-Prinzips, also als schnelle Reaktion auf Umweltreize in Form von Kampf oder Flucht (Cannon-Reaktion). Und da klingelt`s bei euch doch bestimmt, richtig? Welches Zahnrad in unserem Körper bringt sowas nochmal fertig? Genau! Der Sympathikus, besser gesagt eine Rückkopplung zwischen Sympathikus und Nebenniere (Sympathikus-Nebennierenmark-Achse). Hier nochmal eine Erklärung, weshalb man den Sympathikus lieber nicht in Dauerstress versetzen sollte.

Gut zu wissen: Alles, was von der Sympathikus-Nebennierenmark-Achse kommt, beginnt und endet schnell. Die Reaktion innerhalb der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse braucht hingegen länger, da sie über das Blut vermittelt wird. Dabei wird im Hypothalamus zunächst ein Hormon freigesetzt, welches ein anderes Hormon stimuliert, welches wiederum die Nebennierenrinde zur Freisetzung von Cortisol nötigt. Mehr dazu später.

Auch Hans Selye (1936) wusste etwas zum Stressbegriff beizusteuern. Nach seiner Perspektive ist Stress ein physiologisches Antwortmuster, das bei allen Menschen gleich abläuft: Das Allgemeine Anpassungssyndrom (AAS). Dieses wird in drei Stadien eingeteilt:

  • Alarmphase: Der Organismus mobilisiert angesichts eines Stressors Kräfte
  • Widerstand: Die Kräfte werden eingesetzt
  • Erschöpfung: Wird der Stressor sehr lange nicht bewältigt, sinkt die Widerstandskraft unter das Ausgangsniveau

Guter Stress und schlechter Stress

Ich könnte an dieser Stelle noch viel, viel mehr klugscheißern, doch das würde euch verscheuchen. Unterm Strich lässt sich festhalten: Stress ist eine natürliche und gewollte Reaktion des Körpers auf Herausforderungen – also eine gute Sache, zumindest solange der auslösende Stressor einigermaßen händelbar ist. Dann nämlich bringt er viel Positives.

Zum Beispiel wird über die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol (der am häufigsten gemessene physiologische Stressindikator) zusammen mit den Botenstoffen Noradrenalin und Adrenalin das Gehirn angeregt, Energie in den Körper zu lenken. Die Folge:

  • Konzentrationssteigerung
  • Erhöhung der Leistungsfähigkeit

Stress von dieser (also der guten) Sorte wird übrigens Eustress genannt. Er taucht auf, steigert für die Dauer einer Belastung unser Leistungsvermögen ( hoher Sympathikustonus), dann verschwindet er bestenfalls und lässt uns mit einer Extraportion Selbstwirksamkeit („Geil, ich kann was bewirken!“) regenerieren (hoher Parasympathikustonus). Im Gegensatz dazu existiert jedoch auch schlechter Stress, also solcher, der andauert. Disstress nennt man den, und der kann krank machen.

Aber wie eigentlich?

Wie schlechter Stress krank macht

Einerseits steht Stress, besonders chronischer Alltagsstress, in Zusammenhang mit schlechtem Gesundheitsverhalten (Alkoholkonsum, wenig Schlaf, schlechte Ernährung; Dalton & Hammen, 2018). In der Psychologie spricht man von „maladaptiver Bewältigung“, also von womöglich schnell wirksamen, aber potentiell schädlichen Strategien, den Stress zu managen. Im Prinzip ist das ungefähr so, als würde man versuchen, ein Loch in seiner Hose zu flicken, indem man auf der Rückseite ein weiteres gleichgroßes in den Stoff schneidet. Hat zwar irgendwie was von Ursachenbehandlung, schießt letztendlich aber doch am Ziel vorbei.

Apropos Ursache: Spannenderweise denken die Wenigsten: „Ich sollte was an der Ursache ändern.“ Sondern: „Ich will einfach nur, dass es wird wie früher.“ Wie früher, echt? Als das Hosenloch weiter links lag, wars also schöner? Ach, halt! Löcher in Hosen gehören doch mittlerweile zum guten Ton. Die Leute schmücken sich sogar freiwillig damit – je nach Jahreszeit. Ich Dummerchen.

Pardon, bin schon wieder auf meinen Gedanken ausgerutscht. Weiter im Text:

Obendrein bewirkt anhaltender Stress, dass der Organismus permanent immunologische, psychische und physische Reaktionen zur Verteidigung aufrechterhält, wodurch er sich mit der Zeit immer weiter schwächt (siehe ASS, Erschöpfung). Die gesteigerte Cortisolausschüttung wird dann allerdings problematisch. Denn das Stresshormon heftet sich zum Beispiel an Rezeptoren bestimmter weißer Blutkörperchen an. Diese schütten daraufhin weniger Interleukin-1-beta aus, ein Botenstoff, der für gewöhnlich die Immunzellen zur Vermehrung anregt. Interleukin-1-beta erhöht zudem die Aktivität der natürlichen Killerzellen und fördert die Bildung spezieller Antikörper. Sinkt also der Spiegel dieses Botenstoffs, verliert das Immunsystem an Stärke.

Weitere Folgen, wenn über längere Zeit zu viel Cortisol im Körper herumschwirrt:

  • Herzerkrankungen und Bluthochdruck 
  • Verminderung der Lernfähigkeit
  • Gedächtnisstörungen
  • Konzentrationsprobleme
  • Schlafstörungen

Und nicht vergessen: In Stresssituationen weiten sich durch die Überaktivität des Sympathikus die Bronchien, um mehr Sauerstoff aufzunehmen. Die Atmung wird dadurch schnell und flach, was auf Dauer allerdings den genauen Gegeneffekt hat: weniger Sauerstoff wird aufgenommen, wodurch jede einzelne Körperzelle Schaden nimmt. Lest hier nochmal nach, was dagegen helfen kann.

BOOM

Wie schon in einem vergangenen Beitrag ausführlich erklärt, muss ein Stressor, um uns stressen zu können, gar nicht dauerhaft anwesend sein. Dieser ist mitunter nur der erste Funke einer sich selbst entfachenden und gefühlt nie enden wollenden Krankheitsexplosion (siehe ONOO–Zyklus; Pall, 2009). Kurz gesagt: Es macht eines Tages BOOM und man ist krank. Mit Glück weiß man vielleicht noch: „Alles hat angefangen, als…“ Die Auswirkungen von Stress sind dabei so vielfältig wie die Stressoren selbst.

  • Virusinfektionen
  • körperliche Traumata
  • körperliche Belastung
  • Toxoplasmose
  • Strahlenbelastung
  • bakterielle Infektion
  • psychische Belastung
  • instabile Kopfgelenke (Dancing Dens)
  • nitratreiche Ernährung (geräucherte Nahrungsmittel, mit Kunstdünger belastete Nahrungsmittel; Kersten, 2009)
  • Medikamente
  • kohlenhydratreiche Ernährung

Wie hier so schön zu erkennen ist: So gut wie alles, sogar Essen, kann Stress verursachen, und Stress wiederum kann so gut wie alle Krankheiten auslösen. Auch Krankheit selbst, versteht sich, die aber zu allem Übel nie allein steht. Sie bringt mit:

  • körperliche Probleme
  • Abfall des sozialen Status (geringeres oder kein Einkommen)
  • Probleme mit sozialen Beziehungen
  • Probleme mit dem Selbstbild
  • weniger Teilhabe an Freizeitaktivitäten
  • Komorbiditäten
  • Probleme in Ausbildung/Beruf

In der Konsequenz können weitere Krankheiten entstehen, die stressig sind, die Krankheiten entfachen, die immer skurrilere Ausmaße annehmen. Ursache und Wirkung verschwimmen mit der Zeit und Krankheit wird der Einfachheit halber nur noch als einziges großes Malheur wahrgenommen, demgegenüber man sich macht- und perspektivlos vorkommt.

Was genau dann zuerst da war, spielt so weit hinten in der Dominokette dann kaum noch eine Rolle mehr. Fakt ist: Eines ist immer mit dabei, nämlich:

Den Stressbegriff enttabuisieren

Nichtsdestotrotz: Erdrückt von einer Vielzahl körperlicher Beschwerden, wirkt der Gedanke an Stressmanagement schon ein bisschen wie ein schlechter Scherz. Ganz sicher hat das damit zu tun, dass der im Alltag bis ins Grenzenlose verbrauchte Begriff „Stress“ oftmals wie aus der Pistole geschossen kommt, wenn Ärzte scheinbar nicht weiterwissen. Auf uns chronisch Kranke wirkt so eine rasche Schlussfolgerung lieblos und desinteressiert und deshalb sträuben wir uns davor. Wir, die mit Aliensymptomen zu tun haben, sind doch keine gewöhnlichen Stressopfer, was? Doch, sind wir. Ob wir wollen oder nicht. Stressmanagement ist, wie ihr aus diesem Beitrag hoffentlich entnehmen konntet, für uns sogar besonders sinnvoll!

Ich würde mir wünschen, dass Ärzte, sobald das Thema Stress aufkommt, mehr Mühe in die Darstellung der individuellen Relevanz aufbringen und dem Begriff Stress wieder zu mehr Aussagekraft verhelfen. Dadurch wird vielleicht deutlich: Stressmanagement hat große Vorteile. Doch nur für den, der versteht, weshalb.


Anderson, G. (2004). Chronic Conditions: Making the case for ongoing care. MD: Johns Hopkins University.

Cannon, W. B. (1930). The autonomic nervous system. The Lancet, 215, 1109–1115

Dalton, E. D., & Hammen, C. L. (2018). Independent and relative effects of stress, depressive symptoms, and affect on college students’ daily health behaviors. Journal of Behavioral Medicine, 41(6), 863–874. https://doi.org/10.1007/s10865-018-9945-4

Kersten, W. (2009). Paradigmenwechsel im Verständnis chronischer Zivilisationskrankheiten. Komplementäre und integrative Medizin. 50(4). 7-15.

Lazarus, R. S. (1966). Psychological stress and the coping process.

Selye, H. (1936). A syndrome produced by diverse nocuous agents. Nature, 138(3479), 32.
https://doi.org/10.1038/138032a0

Selye, H. (1950). Stress and the General Adaptation Syndrome British Medical Journal, 1, 1383–
1392

World Health Organization (WHO) (2010) Global Status Report on Noncommunicable Diseases 2010. Geneva, Switzerland: WHO Press.


(Foto: Porapak Apichodilok – pexels.com; Maria Eduarda Loura – pexels.com)