Was, wenn der Schlüssel zu ME/CFS direkt in unserem Bauplan liegt – tief in der DNA, zwischen einem A, G, T oder C? Genau das will DecodeME herausfinden: Die größte genetische Studie zu ME/CFS ever sucht nach winzigen Buchstabenvertauschungen (SNPs), die erklären könnten, warum manche Menschen nach zum Beispiel einem Infekt plötzlich chronisch crashen, nebeln und kollabieren – und andere nicht. Parallel dazu zeigt sich immer wieder: Auch CCI hat seine Finger im Spiel.
Zu viel Hirnstamm, zu wenig Platz
Viele Patienten mit infektionsassoziierten chronischen Erkrankungen, einschließlich Long COVID und ME/CFS, berichten über ein großes Spektrum unangenehmer Symptome, wie:
- Dysautonomie,
- Schmerzen,
- Schlafstörungen,
- grippeähnliche Beschwerden,
- Übelkeit
- Schwindel
Ursachen für einige dieser Zustände wurden in der Vergangenheit unter anderem in Veränderungen der Hirnstammregion bei sowohl ME/CFS als Long COVID-Patienten gefunden.
Kleiner Reminder: Der Hirnstamm spielt eine zentrale Rolle bei der Steuerung des autonomen Nervensystems, bei Schlafregulation, Atmung, Kreislaufkontrolle sowie Schmerz- und Übelkeitsempfinden.
Ein Beispiel: Thapaliya und Kollegen (2023) stellten in ihrer weltweit ersten 7-Tesla-MRT-Studie insbesondere Volumenzunahmen in der Pons und im gesamten Hirnstamm fest, und es gab starke Korrelationen zwischen vergrößerten Hirnstammregionen und Symptomausprägungen. Das heißt: Höhere Volumina gingen mit stärkeren Beschwerden einher, was den Autoren zufolge als Hinweis auf mögliche entzündliche Prozesse, Ödeme oder neurodegenerative Veränderungen im Übergangsbereich zwischen Halswirbelsäule und Gehirn gedeutet werden kann. Und genau in diesem Bereich wütet auch CCI (hier eine hübsche Darstellung von Dr. Hauser) – und löst mitunter die gleichen haarsträubenden Symptome aus wie ME/CFS und Long COVID
Henne oder Ei: Ist CCI die Ursache oder die Folge?
Umso erbaulicher (oder wie man’s eben nimmt…), dass aktuelle Forschungbemühungen den Hirnstamm genauer ins Visier nehmen. In der Projekbeschreibung einer neuen Studie namens „Ultrahigh resolution 7-Tesla imaging of structural abnormalities, cerebrospinal fluid flow, and other symptom mechanisms in patients with infection-associated chronic disease“ heißt es:
„Ein fortlaufender Forschungszweig beschäftigt sich mit der Frage, ob eine durch Infektion ausgelöste Langzeiterkrankung mit Abweichungen im kraniozervikalen Übergang oder der sakralen Rückenmarksstruktur assoziiert ist. Eine solche Assoziation könnte entweder auf eine präexistente Vulnerabilität oder eine Folge pathologischer Prozesse im Zusammenhang mit erhöhtem Liquordruck, Infektion oder entzündlicher Beeinträchtigung der Elastizität der Meningen bzw. der Laxität struktureller Bänder im kraniozervikalen Bereich hinweisen.“
Also: Ob Veränderungen am kraniozervikalen Übergang in Bezug auf ME/CFS entweder eine schon dagewesene Schwachstelle darstellen oder die Folge einer Entzündungsreaktion, Infektion oder Druckveränderung sind, die wiederum das Bindegewebe beeinflusst, steht fest auf dem Stundenplan des Teams der Harvard Medical School und dem Martinos Center for Biomedical Imaging. Ebenfalls mittels 7-Tesla-MRT (und einer viermal so hohen Magnetfeldstärke wie herkömmliche 1,5T-Geräte) werden obendrein folgenden Aspekte beleuchtet:
- Strukturelle Abweichungen: Veränderungen der Anatomie des Hirnstamms und angrenzender Strukturen (z. B. Pons, Medulla oblongata, Mittelhirn), CCI (Instabilität am Übergang zwischen Schädel und Halswirbelsäule), Läsionen, Verdickungen oder Volumenvergrößerungen im Hirnstamm
- Zirkulation von Flüssigkeiten: Liquorflussstörungen (CSF flow) – Hinweise auf gestörte Zirkulation der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit, z. B. durch mechanische Blockaden oder veränderten Druck; Intrakranieller Druck – Anzeichen für erhöhten Hirndruck (z. B. durch gestauten Liquor oder mangelnden Abfluss).
- Durchblutungsprobleme: Reduzierter Blutfluss im Hirnstamm oder in benachbarten Regione; Veränderungen im venösen Abfluss oder bei der Autoregulation der Hirndurchblutung
- Autonome Dysfunktion: Auffälligkeiten in den Kerngebieten, die autonome Funktionen wie Herzschlag, Atmung, Verdauung und Temperaturkontrolle regulieren; veränderte Signalweiterleitung in Regionen, die Symptome wie Schwindel, Orthostaseprobleme oder Schlafstörungen erklären könnten
- Vagusnerv-Dysregulation: Dysfunktion der vagalen Signalübertragung (z. B. beeinträchtigte Kommunikation zwischen Hirnstamm und Herz, Magen-Darm-Trakt, Immunsystem); Hinweise auf eine gestörte Neuroinflammation in vagusnahen Hirnstammkernen.
Von allen Seiten zur gemeinsamen Lösung
Offenbar tut sich was. Viele Forschungsteams – von Harvard bis zum Martinos Center – stecken alle verfügbaren Köpfe zusammen und setzen modernste Technik ein, um den Ursachen komplexer, Erkrankungen wie ME/CFS endlich näherzukommen. Dabei berücksichtigen sie sogar Zusammenhänge mit Veränderungen am kraniozervikalen Übergang.
DecodeME wiederum schaut unter der Leitung von Prof. Chris Ponting von der University of Edinburgh vor allem auf unser Erbgut, genaugenommen nach single nucleotide polymorphisms, also nach minimalen Buchstabenabweichungen im Genom, die die Anfälligkeit für ME/CFS erhöhen könnten. Zu diesem Zweck wurden 25.000 Patienten rekrutiert, was diese Studie zur bisher größte ihrer Art macht. Die Ergebnisse lassen allerdings noch auf sich warten, denn die Genom-Analysen sind noch in vollem Gange.
So oder so sieht es aber so aus, als ob sich ein wahres Hagelgewitter forscherischem Interesses zusammenbraut hat – sozusagen als ein Luftgemisch aus unterschiedlichen Windrichtungen.

Doch was, wenn sich alle diese unterschiedlichen Forschungsstränge am Ende ergänzen (also auch solche, die ich frecherweise und aus Zeitnot unerwähnt gelassen habe, die aber irgendwo und nirgendwo irgends im Blog zu finden sind)? Etwa weil winzige genetischen Variationen mit genetisch anfälligem Bindegewebe zusammenhängen, das durch Infektionen an Elastizität verliert – und dadurch eine bislang kompensierte Instabilität entgleisen lässt?
Ist ja wahrlich nicht weit hergeholt.
Erst im Oktober 2024 sah sich Fairbank im National Geographic zu einem knappen Abriss des aktuellen Kenntnisstandes über virale Infektionen veranlasst (darunter auch Epstein-Barr-Virus (EBV) und SARS-CoV-2) und deren Einfluss auf das Bindegewebe – insbesondere bei Menschen mit genetischer Veranlagung zu Bindegewebsschwäche (wie HSD und EDS).
Die Kernaussagen aus dem Artikel:
- Virale Infektionen können Entzündungen im Bindegewebe verursachen, was zu struktureller Schwächung führen kann.
- Einige Viren, darunter EBV, können entweder direkt Kollagen schädigen oder die Produktion von Kollagen verringern.
- Virale Enzyme wie Kollagenasen, die von den Erregern selbst produziert werden, bauen Kollagen ab – das zentrale Strukturprotein in Bändern und Sehnen.
- Das kann zu neu auftretender Hypermobilität führen oder bereits bestehende Instabilität verschlimmern.
- Menschen mit „lockererem“ Bindegewebe („collagen that is a little loosey-goosey“) könnten anfälliger für infektionsassoziierte chronische Erkrankungen wie ME/CFS, Long COVID oder POTS sein.
Ein ganzes Puzzle
Schön zu verfolgen, dass die Wissenschaft dieses große CCI-ME/CFS-Puzzle ganzheitlich betrachtet: Genetik, Infektion, Neuroinflammation, Bindegewebe, Hirnstamm, kraniozervikaler Übergang – alles greift ineinander. Vielleicht liegt die Wahrheit nicht nur in den Genen, nicht nur im MRT-Bild und nicht nur im Immunsystem. Sondern genau dazwischen. Die größte Stärke aktueller Forschung könnte genau darin liegen: Disziplinen zu verbinden, statt sie getrennt marschieren zu lassen. Denn wenn wir verstehen, warum manche Körper nach einer Infektion kollabieren – strukturell, neurologisch, genetisch – und andere nicht, kommen wir einer echten Lösung für ME/CFS und näher. Und das wird Zeit.
Und was ist mit CCI? Instabilitäten im kraniozervikalen Bereich haben sich ja schon als bedeutsam für ME/CFS herausgestellt. Denkt nur mal an Jeff Wood oder Fallserie von Rowe et al. (2018). Denkt an Kuklinski!
Ich denke also, das wird schon. Besser vorgestern als morgen, würden einige sagen, aber dass sich überhaupt so viel bewegt, ist doch ein gutes Zeichen. Und bis wir alle von den bald auf uns niederregnenden Erkenntnissen und Lösungen profitieren können, gibt’s eine kleine Buchempfehlung als Selbsthilfeinspiration zur Überbrückung:

Fairbank, R. (2024, 15. Oktober). Why double-jointed people are more likely to have health problems. National Geographic. https://www.nationalgeographic.com/science/article/hypermobility-health-risks-symptoms
Thapaliya, K., Marshall-Gradisnik, S., Barth, M., Eaton-Fitch, N., & Barnden, L. (2023). Brainstem volume changes in myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome and long COVID patients. Frontiers in neuroscience, 17, 1125208. https://doi.org/10.3389/fnins.2023.1125208
PolyBio Research Foundation. (n.d.). Ultrahigh resolution 7-Tesla imaging of structural abnormalities, cerebrospinal fluid flow, and other symptom mechanisms in patients with infection-associated chronic disease. Retrieved May 13, 2025, from https://polybio.org/projects/case-study-5/
Rowe, P. C. et al. (2018). Improvement of severe myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome symptoms following surgical treatment of cervical spinal stenosis. Journal of translational medicine, 16(1), 21. https://doi.org/10.1186/s12967-018-1397-7
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