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Neulich hatte ich eine interessante Nachricht in meinem Mailpostfach. Sie stammte von einem sehr jungen Leser, der einerseits vermutet, an CCI/AAI erkrankt zu sein, andererseits jedoch sehr konkrete Zweifel äußerte. All das erinnerte mich an einen vertrauten und zugleich oft unterschätzten Fallstrick, über den besonders chronisch Kranke dann und wann unwissentlich stolpern. Und womöglich auch ich…


Mein Postfach

Wenn in meinem Wirbelwirrwarr-Postfach Nachrichten erscheinen, sind diese für gewöhnlich sehr, sehr lang und leidvoll. Im Grunde könnte ich bei den meisten dieser Geschichten über Dreiviertel des Inhalts schlichtweg überspringen (was ich nicht tue, keine Bange!), um mich sofort dem Appendix, der Liste gefürchteter Fragen, widmen zu können.

Nein, das soll nicht bedeuten, dass mich eure Geschichten nicht interessieren – ganz im Gegenteil! Worauf ich hinaus will, ist, dass ich beim Lesen oftmals ein Deja-vu-Erlebnis habe, weil mir viele Begebenheiten allzu vertraut sind. Aber nochmal: Das bedeutet keineswegs, dass ich es leid bin! Ihr könnt mir Romane schreiben, wenn es euch ein Bedürfnis ist, ja selbst ganze Mehrteiler! Ich lese gebannt jedes Wort! Denn letztendlich bringt jeder von euch ja auch Unbekanntes mit und vor allem Erfahrungen, die auch mir helfen.

Knie und Kopfgelenke

Mein letztes Gespräch jedenfalls kullerte ein wenig aus dem üblichen Raster. Der besagte Leser war nämlich äußerst skeptisch, was seine eigene Vermutung in Bezug auf CCI/AAI betraf. Instabile Kopfgelenke, gab er zu bedenken, das sei schon eine ziemlich verrückte Diagnose, mit der man sich nicht einfach abfinden sollte – jedenfalls nicht, ohne alle anderen Möglichkeiten sicher ausgeschlossen zu haben. Eisenmangel zum Beispiel. Aber darauf komme ich zu einem späteren Zeitpunkt zu sprechen.

Die Nachricht dieses Lesers zeichnete sich vor allem durch scharfe gedankliche Rechts- und Linkskurven aus. Eine davon mündete in der Erzählung über das Gespräch mit einem Arzt, der ihm erklärte, was zum Beispiel mit einem Knie passiert, das lange Zeit nicht bewegt wird. Moment! Was haben denn jetzt Knie (irgendwie witzig, dass die Mehrzahl von Knie Knie ist) mit instabilen Kopfgelenken zu tun?

Kleines Beispiel: Ihr verharrt lange Zeit in einer Position und bewegt euch, wenn überhaupt, nur sehr selten. Plötzlich klingelt es und ihr wollt aufstehen – AUTSCH! Die Gelenke sind im ersten Moment wie eingefroren.
Ich jedenfalls kenne das sehr gut. Und basierend auf dieser doch recht typischen Erfahrung stellte mein Leser nun indirekt die sprunghaft kühne Überlegung an, wieso sich die Bänder rund um die Kopfgelenke nicht ebenso schnell verkürzen, ergo vom Prinzip her stabilisieren, sobald der Kopf über längere Zeit möglichst ruhig gehalten wird. Es zeigt sich dadurch doch: Die Fähigkeit zur Verkürzung (um es mal so plump zu umschreiben) ist – entgegen der ewig vorherrschenden Vorstellung von permanent „ausgeleierten“ Bändern – da! Also woran soll es denn bitteschön hängen?

Bitte verzeiht mir, aber Näheres zu Knien und Kopfgelenken möchte ich vorerst schieben. Denn aus diesem, lasst mich sagen Grenzen sprengenden und mit Skepsis angereicherten Austausch erweckte ein viel spannenderer Aspekt mein Interesse: die Skepsis selbst.

Suchs dir aus

Auch dieses Phänomen kennt wahrscheinlich jeder: Für ein Bündel verschiedener Symptome vergibt Arzt A Diagnose X, Arzt B Diagnose Y und Arzt C Diagnose Z. Mitunter hängt also alles Weitere anscheinend allein davon ab, wie bereit einer ist, sich eine Zweit- oder Drittmeinung einzuholen. Bei mir war das jedenfalls so. Zunächst bekam ich die Diagnose Generalisierte Angststörung, irgendwann danach Epilepsie und etwas später kam dann CCI/AAI. Ich hätte mich mit der ersten Diagnose zufriedengeben können; oder mit der zweiten. Doch ich suchte weiter, bis ich in CCI/AAI „meine Krankheit“ fand.

Dabei weiß ich noch immer nicht hundertprozentig, ob mein Krankheitsbild tatsächlich der Instabilität meiner Kopfgelenke zuzuschreiben ist. Ich meine, wessen Atlas sitzt schon kerzengerade auf dem Axis? Das ist ein bisschen so, als würde man mit diffusen Symptomen, unter denen sich auch Rückenschmerzen finden lassen, zum Arzt gehen, dieser ordnet ein MRT an, an irgendeiner Bandscheibe zeigt sich eine Anomalie und sofort ist klar: Das muss die Ursache sein – Suche beendet. Zufrieden geht man dann nach Hause, besucht einige Zeit später vielleicht nochmals die Sprechstunde, um dem Arzt von Fort- oder Rückschritten zu berichten. Vielleicht gibt es irgendwann sogar eine OP, die schlimmstenfalls nicht nur nichts bringt, sondern die gesamte Knochensubstanz der Wirbelsäule destabilisiert (entsprechende reale Fallbeispiele kenne ich), bestenfalls aber genau das Richtige sein wird. Niemand weiß das so genau, denn Diagnostik ist ja bekanntlich mehr ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten als das, was man sich als Kranker darunter vorstellt.

Worauf kommt es an?

Doch zurück zu CCI/AAI: Selbstredend: Sobald das Rückenmark stark in Mitleidenschaft gezogen wird, braucht es von Skepsis nicht mehr soooo viel. Doch mein Rückenmark ist die meiste Zeit eigentlich ziemlich unbedrängt. Also wer weiß, womöglich leide ich in Wirklichkeit an einer völlig anderen Erkrankung und meine Upright-MRT-Aufnahmen und das auffällige EEG sind lediglich kleine Nebenbaustellen. Ebenso gut könnte ich Borreliose haben, eine ebenfalls fiese Erkrankung mit tausend Gesichtern, die durch Zeckenbisse ausgelöst werden kann.

Ja und nun? Kommt es vielleicht gar nicht so sehr darauf an, was man hat, als darauf, welche Krankheit man zu haben glaubt? Oder etwas provokanter formuliert: Kommt es viel mehr darauf an, für welche Krankheit man sich entscheidet?

Ja, ich denke da ist schon was dran. Erst recht, wenn man bedenkt, dass eine lang ersehnten Diagnose auch von einem gewissen Ausmaß an Zufriedenheit begleitet wird. Endlich Gewissheit! Endlich eine Ursache! Endlich ein Plan! Und wieso auch nicht? Eine Krankheit, wenn man sich schon damit plagen muss, sollte schon gewissen Ansprüchen genügen und vor allem auch zu einem passen.

Legt das Letzte bitte nicht zu sehr auf die Goldwaage. Seht es eher als Inspiration oder gar Motivation an, mal einen Schritt wegzugehen von den alten Gedanken und Vermutungen, hin zu neuen Ideen und vielleicht zu einer Art Zuversicht im Umgang mit den Symptomen, die euch derzeit ärgern. Ich finde es gar nicht schlecht, skeptisch zu sein und dann und wann einen neuen Versuch zu wagen, das große Krankheitsrätsel endgültig zu lösen.

Apropos…

Um aber doch nochmal zurück zum Thema Knie und Halswirbel zu kommen: Nehmen wir nun mal schlichten Bewegungsmangel als Grund für allgemeine Verkürzungen im Bereich eines Gelenks und interpretieren da hinein den Beweis, dass es zwischen gerissenen und gesunden Bändern/Sehnen keine Graustufen (also keine Instabilität) gibt. Das heißt: Entweder hat man gerissene Bänder/Sehnen, was im Bereich der Kopfgelenke nur Tod bedeuten kann, oder alle Instabilos haben in Wirklichkeit nicht CCI/AAI, sondern irgendwas anderes, da ihre Sehnen/Bänder sich ja irgendwann verkürzen müssen. Ungefähr so lautete die Message, die ganz oben erwähnter Arzt meinem Leser ans Herz legte.

Klingt plausibel. Aber (Achtung, ich wage jetzt mal einen Sprung ins nackte Wirrwarr): Woher kommt dann das chronisch vergrößerte Bewegungsausmaß der Halswirbel/Kopfgelenke bei manchen Menschen, die gleichzeitig auch an schlimmen Symptomen leiden? Ist sowas vielleicht genauso zu bewerten wie ein etwas aus der Norm geratenes Körperteil, was so gern als „Laune der Natur“ bezeichnet wird, jedoch in keinem kausalen Zusammenhang mit der Leidensgeschichte der Betroffenen steht? Knifflig. Kann aber sein! Wenn aber doch eine Hypermobilität dahintersteckt, könnte man Betroffenen doch dauerhaft eine feste Halskrause anlegen, damit ihr Wirbelgelenke die Chance erhalten, steifer zu werden? Aber ist das erstrebenswert? Ich meine, bei einer 15%-igen Reduktion der Muskelmasse pro Woche völliger Inaktivität? Was soll denn dann den Kopf halten/bewegen? Ganz ohne Muskelkraft leiden schließlich zwangsläufig auch die Bänder. Andererseits kein Problem, wenn man lange genug wartet, bis die knöchernen Komponenten der Gelenke miteinander verwachsen. Aber davon ganz abgesehen: Lässt diese simple und zugleich völlig irre Betrachtung nicht vielleicht eine wichtige Unterscheidung außer Acht, nämlich die zwischen Sehnen und Bändern?

Zur Erinnerung: Sehnen sind die Dinger, die Muskeln an Knochen befestigen. Sie sind also Kraft- und Bewegungsträger, während Bänder wenig elastische Verbindungen darstellen, die unsere Gelenke vor zu viel Bewegung schützen. Sitzen wir lange Zeit, kann es durchaus passieren, dass bestimmte Muskeln verkürzen, weil Muskeln unter anderem die Eigenschaft besitzen, sich an die meist vorherrschenden Bedingungen, denen der Körper ausgesetzt ist (das kann stundenlanges Sitzen sein wie auch regelmäßiger Kraftsport), anzupassen. Schnelles Aufstehen nach stundenlangem Sitzen kann somit auch mal Schmerzen verursachen, ist für die Muskulatur aber letztendlich ein Segen. Bänder hingegen, die ja aus gutem Grund unflexibel sein müssen, sind da schon etwas empfindlicher. Besonders krumm nehmen sie starke und abrupte Krafteinwirkungen oder Fehlhaltungen, die über einen langen Zeitraum stattfinden. Zu schaffen macht ihnen ebenso die fehlende Mithilfe der Muskeln. Nach vorherrschender Meinung bleiben solche überbeanspruchten Bänder, die überdehnt sind, dauerhaft überdehnt und können fortan nicht mehr dafür sorgen, dass unsere Muskulatur bei Bewegungen gebremst wird. Ich persönlich glaube zwar, auch Bänder können regenerieren, doch unstrittig ist für mich ebenso, dass Degeneration, ausgelöst durch Bewegungsmangel, Bänder unzuverlässig und anfällig für Verletzungen werden lässt.

An dieser Stelle muss ich vorerst aussteigen, denn ihr merkt, ich habe mich gerade um Kopf und Kragen philosophiert. Vieles davon gehört in die Mülltonne, doch es zeigt wunderbar auf, in welche Details man sich auf der Suche nach einer finalen Lösung verstricken kann. Und sowas passiert sowohl Betroffenen als auch Ärzten – nur eben in etwas anderer Darstellung.

Ich denke: Letztendlich sind verkürzte Sehnen und überdehnte Bänder wohl keine gute Lösung bei einer Instabilität. Beides sorgt eher für Probleme und ist weniger geeignet, Linderung zu verursachen. Besser wäre eine gut ausgebildete, vielseitig beanspruchte Muskulatur, die achtsam und vor allem koordiniert eingesetzt wird, um so die ausgefallene Schutzleistung der Bänder bestmöglich zu kompensieren.

Wirrwarr-Ende. Aber ich bin sehr dankbar über solche Gedanken-Anstupser. Zwischen viel Unsicherheit und mangelnder Expertise steckt oftmals ein brillanter Ansatz zum Wechsel der Sichtweise in ihnen.