Die Krankheit CCI/AAI ist eine monströse Herausforderung. Sie zwingt uns geradezu, immer wieder anzuzweifeln, dass es für uns Betroffene ein Happy End gibt. Scheiß Körper! Oder übersehe ich da was?


Vergiss es!

Wie soll man optimistisch bleiben können, wenn der Körper, den man bewohnt, ununterbrochen außer Rand und Band gerät? Wenn ein kurzer Augenblick des Freigefühls sich zugleich wie eine Drohung anfühlt, weil eine Stimme in uns säuselt: „Vergiss es! Zurücklehnen und den Moment genießen lohnt sich nicht. Er ist sowieso gleich vorbei, also bereite dich lieber auf das vor, was danach kommt!“
Das rebellische Fleisch, in dem wir eingewickelt sind, erklärt uns den Krieg. Aber was haben wir verbrochen? Wieso richtet sich unser eigener Körper gegen uns? Nochmals meldet sich die Stimme: „Gleich geht es wieder los! Ein kleiner Ruck im Nacken und du wirst wochenlang leiden!“

Diabolisch, dieser scheiß Körper.

Ist er das? Lasst es uns herausfinden!

Fingerabdruck im Nacken

Dazu eine kleine Aufgabe: Tretet vor einen Spiegel und schaut euch mal für einen Moment euren Körper an. Schaut genau hin und zwar von allen Seiten. Bewegt nun mal eure Arme und Beine, die Finger und die Muskulatur in eurem Gesicht. Hebt mal die Augenbrauen, rümpft die Nase, blinzelt, wackelt, wenn ihr könnt, mit den Ohren, richtet euer Becken auf und lasst es kreisen. Versucht einfach, jeden Teil eures Körpers für einen kurzen Moment zu aktivieren. Schaut euch auch unbedingt euren Hals an und wie sich euer Kopf darauf neigt und rotiert. Macht das ruhig mal für eine Weile. Vielleicht dämmert euch dann bereits, worauf ich hinaus möchte.

Ist euch bei dieser Übung aufgefallen, wie komplex wir konstruiert sind? Ein bisschen wie ein 3D-Puzzle aus einer unüberschaubaren Vielzahl einzelner Teile. Eines greift in das andere, welches wiederum mit dem nächsten verbunden ist, usw. Unser Körper ist quasi rund um die Uhr damit beschäftigt, jede unserer Zellen gleichzeitig im Blick und in Balance zu halten, während er obendrein auch noch Turbulenzen ausgesetzt ist.

Mit der Zeit verändern sich unsere Puzzleteile, fallen ab und zu sogar runter, wodurch sie nicht mehr ganz passgenau sind. Daraufhin muss der Körper tricksen – ungefähr so wie ein Kind, das Puzzlelücken einfach irgendwie füllt, Hauptsache das Loch ist geschlossen. Der Körper nutzt dafür zum Beispiel Blockaden. Das sind die Dinger, die Physiotherapeuten, Osteopathen und Chiropraktiker/-praktoren vehement bekämpfen, weil sie, naja, blockieren. Ohne Zweifel sind diese Leute gut in solchen Dingen. Der Körper kommt sich dabei jedoch ganz schön dämlich vor, kann ich mir vorstellen. Plötzlich gerät durch so eine Intervention wieder alles durcheinander und muss abermals beschwerlich zusammenfügt werden, nicht so lieblos mechatronisch wie durch jemanden, der sich anmaßt, das Kunstwerk Mensch besser zu begreifen als das Kunstwerk selbst. Total aufwändig, total kraft- und zeitraubend. Aber ganz offensichtlich zugleich ein Liebesdienst!

Was wir mit Triceratopsen gemeinsam haben

Aber wieso ist das so? Wieso kann so eine therapeutische Intervention nicht einfach endlich dauerhafte Ruhe ins System bringen? Wieso kommt man sich hinterher mitunter noch zerpflückter vor als vorher? So ein Profi muss doch wissen, was er tut?

Am besten, wir betrachten uns mal einen entfernten Verwandten von uns: den Triceratops (wir kommen ja schließlich alle aus derselben Ursuppe).

Triceratopse waren wirklich sehr imposante Tierchen. Insbesondere ihr Nackenschild. Aber wisst ihr, was sie besonders gut konnten? Schnelle Kopfbewegungen! Denn der Kopf eines Triceratops war über ein mächtiges Kugelgelenk mit dem Rest des Dinos verbunden, woraus ein überaus vielschichter Bewegungsspielraum resultierte.

Bei uns Menschen ist das ähnlich. Zwar besitzen wir zwischen Kopf und Hals kein Kugelgelenk. Dafür sind unsere Kopfgelenke aber so aufgebaut, dass wir unseren Kopf in mitunter kaum sichtbaren Kleinstschritten auf sowohl von außen als auch von innen kommende Reize ausrichten können. Die Bewegungskontrolle der Kopfgelenke erfolgt dabei mit Hilfe von über 20 Muskeln. Kein anderes Gelenk im Körper wird so präzise gesteuert! Und genau das ist der wortwörtliche Knackpunkt.

Der Knackpunkt

Der Anatom Prof. Rohen sprach einst von einer zum Kopf hin zunehmenden »Individualisierung« der Muskeln, weil die Bewegungsfähigkeit der Kopf-Hals-Region auch unserem seelischen und emotionalen Ausdruck entspricht. Da diese Ausdrucksfähigkeit bei jedem Menschen so verschieden ist wie ein Fingerabdruck, lautet die Konsequenz, dass auch unsere Halswirbelsäule für jeden Therapeuten absolutes Neuland sein muss. Der einzige Therapeut, der diese Einzigartigkeit mit all ihren Facetten überblicken kann, ist der Körper selbst. Wieso vertrauen wir ihm nicht? Wieso sprechen wir ihm ab, für uns zu sorgen?

Weil er uns manchmal enttäuscht? Dürfen wir wirklich so überheblich sein und ausblenden, dass auch wir dann und wann sehr enttäuschend mit unserem Körper umgegangen sind? Indem wir ihm nicht das gaben, was er brauchte. Indem wir wieder und wieder unsere Grenzen überschritten haben. Indem wir Stress geradezu manisch konsumierten, und ungesunde Seelentröster, mit denen wir uns anschließend betäubten. Indem wir aufgehört haben, zu leben.

Ja, so ein Körper ist irgendwann auch mal kaputt. Doch bis dahin bleibt er uns treu, denn nichts anderes ist seine Aufgabe. Wenn wir uns jedoch fortwährend selbst betrügen, uns aus den Augen verlieren und nur noch funktionieren, ich frage euch: Welchen Grund gibt es dann noch für Heilung?

Insofern glaube ich, eine Entschuldigung wäre angebracht.


(Foto: Anete Lusina; cottonbro – pexels.com)