Eine Erkrankung, die niemand sehen kann, lässt sich nur schwer begreifen. „Eigentlich siehst du doch kerngesund aus“, sagen Angehörige und Freunde, während mitten im Körper ein Krieg tobt. Erklärungen münden nach und nach in Ablehnung. Und auf einmal ist man einsam.


Damals

Eigentlich möchte ich das Folgende weder in Worte kleiden noch darüber nachdenken. Ich habe Angst, mich in Erinnerungen an schlimme Zeiten zu verstricken, die mir – wenn auch nur für einen Moment – meine Freude nehmen. Andererseits sind sie längst da, diese schlimmen Bilder von vor fast drei Jahren.

Damals fühlte sich mein gesamter Körper an wie eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung. Um ein anderes Bild zu nutzen: Ich kippte über den Rand einer steilen Klippe, weit über den Scheitelpunkt hinaus, von wo aus ich mich noch der Schwerkraft hätte entziehen können. Ich fiel bereits, doch ich weigerte mich mit aller Kraft, die ich hatte, aufzuschlagen.

Ich bleibe

Den Naturgesetzen zufolge müsste ich tot sein. Doch eine Mutter ist nicht nur fähig, tonnenschwere Autos in die Lüfte zu heben, wenn sie das Wohl ihrer Kinder in Gefahr sieht. Sie überlistet sogar den Tod. „Ich will meinen Sohn stillen und meine Tochter in die Schule fahren!“, waren die Worte, mit denen ich Gott wieder und wieder zu verstehen gab, dass ich bleibe – komme von mir aus, was wolle.

Bezahlt habe ich mit wochenlangen Qualen, wochenlanger Orientierungslosigkeit und wochenlanger Maskerade – um niemanden zu beunruhigen.

170

Saßt ihr mal mit einem Puls von 170 zwischen einem Weihnachtsbaum und euren Kindern, die gerade Geschenke auspacken? Habt ihr mit starker Atemnot Windeln gewechselt? Standet ihr schweißgebadet an der Kasse, während sich euer Baby an euch klammerte und gekuschelt werden wollte? Habt ihr darum gekämpft, bei Bewusstsein zu bleiben, während ihr euren Kleinen einen Gutenachtkuss gegeben habt? Habt ihr gelacht, obwohl ihr zu nichts mehr in der Lage wart, nicht einmal zum Treppensteigen oder Duschen?

Hilfe, ich sterbe!

All das ist nicht heldenhaft. All das macht mich nicht zu einer Heiligen. All das lässt mich bloß verstehen, wie es momentan einer Mutter geht, die gestern Folgendes in eine Facebook-Gruppe schrieb: „Hilfe! Ich sterbe! Ich kann nicht mehr!“ Auch sie hat instabile Kopfgelenke und kämpft derzeit ums Überleben.

Ihr Kind habe sie bereits bei ihren Eltern untergebracht. Einkaufen kann sie nicht, geschweige denn einen Arzt aufsuchen. Der Rettungsdienst nimmt sie nicht ernst, die Notärzte halten sie für eine Simulantin. Sie hat niemanden, nur sich selbst und das Internet, wo sie Gleichgesinnte findet.

Niemand versteht

Das ist wirklich das Schlimmste daran: die Einsamkeit. Niemand versteht, wie sich diese Krankheit anfühlt, wie viel Kraft sie einem raubt und wie heimtücktisch sie sein kann. Viele denken: Wie überaus schlimm kann etwas sein, das man weder sehen noch messen kann? Jammerei nützt doch nichts! Man muss aufstehen und sich zusammenreißen, muss sich eine Beschäftigung suchen und eine Tagesstruktur finden. Man muss einfach machen, was andere machen: die Arschbacken zusammenkneifen und durch!
Ja, das stimmt. Wenn das Zusammenkneifen nur nicht so erfolglos wäre.

Als Gesunde würde ich vermutlich auch so denken. Als Gesunde würde ich mich nicht um irgendwelche abgefahrenen Krankheiten scheren – wozu auch? Um mir fremder Leute Last aufzubürden? Um mein eigenes Leben nach anderen auszurichten? Um irgendwem zu gefallen?

Ich wünschte, ich könnte helfen

Ich wünschte, ich könnte dieser Mutter helfen. Doch CCI/AAI lässt sich nicht einfach abstellen. Jeder noch so kleine Eingriff kann noch schlimmere Symptome hervorbringen. Jede Bewegung kann ihr augenblicklich die Kraft nehmen, sich auf den Beinen zu halten, um Hilfe zu schreien oder zu atmen. Sie ist dieser Qual ausgeliefert, ohne Pardon.

Der beste Rat, den ich ihr zu geben wusste, ist dieser: Was auf körperlicher Ebene zerbrochen ist, kann durch die Seele zusammengefügt werden. Gesund ist nicht der, dessen Körper ohne Schaden ist. Gesund ist der, dessen Seele und Körper im Einklang sind.

Natürlich klingt sowas infantil. Natürlich klingt es nicht logisch. Doch was zum Henker wird man wohl wählen, wenn einem die Wahl zwischen Logik und einer allerletzten Chance gelassen wird?