Ob Henne oder Ei, Stress ist immer mit dabei. Das war sozusagen das Fazit des letzten Stress-Beitrags. Darauf basierend darf Stressmanagement als eine Art Hintertür betrachtet werden, hinter der sich großes Potential verbirgt, körperliche Symptomverbesserungen zu erzielen. Möglichkeiten gibt’s da viele, angefangen bei A wie Autogenes Training bis Z wie Zalando. Mein persönlicher Favorit beginnt mit S wie Shinrin Yoku bzw. W wie Waldbaden.


Ein wackeliger Turm

Ist euch schon mal aufgefallen, wie überfrachtet das Leben manchmal sein kann? Selbst wenn Job, Familie, Haushalt, Ausbildung, Studium, Sorgen um die Lieben, Sorgen um sich selbst und dergleichen ausgeklammert werden? Dann bleibt immer noch das bloße Existieren übrig, was, wie viele wissen, gleichfalls zum monströsen Kraftakt werden kann, zum Beispiel wenn sich der empfindlichste Bereich des ganzen Körpers wie ein wackeliger Jenga-Turm verhält. Jeder noch so winzige Reiz kann dann ausreichen und die Bausteine des Körpers knallen einem regelrecht um die Ohren.

Instabilos wissen sofort, was gemeint ist, oder? (Foto: Engin_Akyurt – pixabay.com)

Grelles Licht zum Beispiel. Ein Graus, nicht wahr? Oder sich überlappende Geräusche. Beißende Farben, wie man sie im Supermarkt findet. Musterexplosionen. Chemische Gerüche. „Technostress“ von all den elektronischen Nachrichten, die uns erreichen, von Bildschirmgeflimmere und schrill piependen Mikrowellen. Belastende Gedanken, die nicht müde werden, sich als Selbstvorwürfe zu entpuppen. Frust. Daneben die dicht aufeinanderfolgenden und manchmal aussichtslos wirkenden Besuche bei Ärzten und Therapeuten, nur um sich am Ende noch kraftleerer zu fühlen.

All sowas mündet in purem Disstress. Und Disstress ist genau das, was ein kranker Körper möglichst von sich fernhalten oder zumindest regelmäßig stoppen sollte. Aber geht sowas überhaupt? Für mich jedenfalls schon. Seid deshalb eingeladen, mich in den Wald zu begleiten, dorthin, wo ich Shinrin Yoku betreibe wie ein wahrer Profi. 😉

Shinrin Yoku – Ein Bedürfnis?

Shinrin Yoku? Ist das sowas wie eine neue Joghurtsorte? Nein, nein. Lasst mich euch erleuchten:

Shinrin Yoku kommt aus Japan und ist hierzulande als Waldbaden bekannt. Shinrin bedeutet „Wald“, Yoku „Bad“. Anders als bei einem gewöhnlichen Spaziergang geht es bei Shinrin Yoku nicht ums schnelle Luftholen für Zwischendurch, sondern viel mehr darum, den Wald mit allen Sinnen wahrzunehmen und dem biologischen Bedürfnis, in der Nähe der Natur zu sein, Wertschätzung zu verleihen (Biophilia-Hypothese; Kellert & Wilson, 1993).

Biologisches Bedürfnis?

Ja, laut des amerikanischen Biologen E. O. Wilson verspüren Menschen den Wunsch, in der Natur zu sein, da sie Dinge lieben, die sie am Leben halten. Man könnte sagen: Da die Menschheit die meiste Zeit ihrer Existenz in der Natur verbracht hat, ist sie genetisch darauf programmiert, mit ihr verbunden sein zu wollen (abgesehen von meinem Mann).

Und tatsächlich lohnt sich das auch.

Spürt auch ihr den Wunsch, in der Natur zu sein? (Foto: Joahnnes Plenio – pexels.com)

Was der Wald mit uns macht

In zahlreichen Studien konnte der Zusammenhang zwischen längeren Aufenthalten im Wald und der Supprimierung (also Hemmung) der Sympathikus-Aktivität sowie die Optimierung immunologischer Prozesse beobachtet werden (e.g. Lee et al., 2011; Li et al., 2008; Park et al., 2009).

Die Zeit im Wald als Kontrast des allgegenwärtigen „Technostresses“ bewirkt eine Flucht aus eben diesem und bietet eine Pause von damit verbundenen Zwängen (permanentes Schauen auf das Handy, Mails abrufen, Telefonate annehmen etc.). Dadurch reduziert sich das, was die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einst zur Epidemie des 21. Jahrhunderts erklärte: Stress.

Stressreduktion, erkennbar zum Beispiel am Absinken des Cortisolspiegels (Antonelli et al., 2019), fördert die Aktivität natürlicher Killerzellen sowie die Produktion von Antikrebs-Proteinen (Li, 2008). Darüber hinaus wirkt Shinrin Yoku auch auf psychischer Ebene, indem es beispielweise unangenehme Gefühle und Zustände wie Ängste, Erschöpfung, Traurigkeit und Schuldgefühle mildert und die Stimmung hebt (Li, 2019).

„Zwangspause“ beschreibt hierbei treffsicher, worum es bei Shinrin Yoku im Wesentlichen geht: Genuss, anstelle von hektischer Zielabarbeitung (Qi, 2018).

Wie man richtig waldbadet

Im Grunde existieren für das Waldbaden keine strengen Regeln, sondern primär allerhand Inspirationsquellen, die als Einladung zu verstehen sind. Fest steht jedenfalls: Schon 120 Minuten pro Wochen reichen, Wohlbefinden und Gesundheit positiv zu beeinflussen (White et al. 2019).

Die Vorbereitung umfasst lediglich das Tragen passender, aber vor allem bequemer Kleidung. Abgesehen davon darf man sich überraschen lassen. Wer möchte, kann sich für geführtes Waldbaden entscheiden, um unter anderem dem Risiko, den Nachhauseweg nicht wiederzufinden, entgegenzuwirken. Ein Handy sollte laut Li (2018) zwar nicht mitgenommen werden. Doch das ist gewiss Geschmackssache, schließlich kann es beruhigend sein, für den Notfall nicht ohne dazustehen.

Waldbaden kommt ohne Regeln aus. Trotzdem solltet ihr dabei nicht verlorengehen. (Foto: Lukas – pexels.com – pexels.com)

Kleine Anleitung in zehn Schritten

Wer möchte, darf sich von folgenden Punkten inspiriert fühlen und versuchen, sie beim nächsten Aufenthalt im Wald umzusetzen:

1) Lass dich treiben: Gehe gemütlich spazieren; lass dich von deinen Füßen leiten; Ziel und Dauer sind nicht entscheidend. Erlaube dir, zu trödeln, zu bummeln, zu verweilen.

2) Ruh dich aus: Verausgabe dich nicht, lege Pausen ein. Setze dich auf einen Baumstamm oder auf einen Moosteppich und genieße die Eindrücke.

3) Erlebe: Nimm wahr, was um dich herum passiert; betrachte Formen und Farben, rieche die Waldluft, berühre einen Baum, laufe barfuß; probiere Waldfrüchte und Wildkräuter, die du kennst; sammle Pilze, die du kennst, tauche deine Füße in kühles Bachwasser.

4) Bewege dich: Klettere über Stämme oder drunter durch, balanciere, erklimme einen Baum, hüpfe, tanze, wälze dich über Gras.

5) Lass dich überraschen: Entdecke Bekanntes neu; lass dich auf Neues ein; sammle Steine, Stöcke und Kastanien; lass deine Ausbeute dein Schatz sein.

6) Sei achtsam: Verliere dich im Moment; verfolge keine strengen Ziele.

7) Entspanne deine Augen: Blicke in die Ferne; entdecke Strukturen und beobachte das Licht, wie es sich zwischen Blättern und Zweigen hindurchmogelt.

8) Atme: Beobachte deinen Atem; lass ihn kommen und wieder gehen.

9) Stille: Schweige, erlaube dir zu träumen. Genieße, wie sich deine Ohren erholen und regelrecht durchatmen.

10) Meditation: Beruhige deinen Geist, wie ein Karussell, das immer langsamer wird und schließlich zum Stehen kommt.

Viel Spaß beim Ausprobieren!


Antonelli, M. et al. (2019). Effects of forest bathing (shinrin-yoku) on levels of cortisol as a stress biomarker: a systematic review and meta-analysis. International journal of biometeorology63(8), 1117–1134. https://doi.org/10.1007/s00484-019-01717-x

Berger, B. & Owen, D. (1988). Stress Reduction and Mood Enhancement in Four Exercise Modes: Swimming, Body Conditioning, Hatha Yoga, and Fencing. Research Quarterly for Exercise and Sport. 59. 148-159. https://doi.org/10.1080/02701367.1988.10605493.

Cheema, B. S. et al. (2013). Effect of an office worksite-based yoga program on heart rate variability: outcomes of a randomized controlled trial. BMC complementary and alternative medicine, 13, 82. https://doi.org/10.1186/1472-6882-13-82

Lee, J. et al. (2011). Effect of forest bathing on physiological and psychological responses in young Japanese male subjects. Public health, 125 2, 93-100. https://doi.org/10.1016/j.puhe.2010.09.005

Li, Q. et al. (2008). Visiting a forest, but not a city, increases human natural killer activity and expression of anti-cancer proteins. International journal of immunopathology and pharmacology21(1), 117–127. https://doi.org/10.1177/039463200802100113Li, Q. (2018). Die wertvolle Medizin des Waldes. Rowohlt.

Li Q. (2019). Effets des forêts et des bains de forêt (shinrin-yoku) sur la santé humaine : une revue de la littérature [Effect of forest bathing (shinrin-yoku) on human health: A review of the literature]. Sante publique (Vandoeuvre-les-Nancy, France)S1(HS), 135–143. https://doi.org/10.3917/spub.190.0135

Linenberger, M. (2011). The one minute to-do list. New Academy Publishers.

Kellert, S. R. & Wilson, E. O. (1993). The biophilia hypothesis. Island Pr.

Park, B. J. et al. (2009). The physiological effects of Shinrin-Yoku (taking in the forest atmosphere or forest bathing): Evidence from field experiments in 24 forests across Japan. Environmental health and preventive medicine, 15. https://doi.org/18-26. 10.1007/s12199-009-0086-9.

White, M. et al. (2019). Spending at least 120 minutes a week in nature is associated with good health and wellbeing. Scientific Reports. 9. https://doi.org/7730. 10.1038/s41598-019-44097-3.