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Gestern Abend stieß ich auf ein wieder mal sehr spannendes Interview mit Dr. Jessica Eccles (#drbendybrain), das ich gern mit euch teilen möchte. Es geht, wie zu erwarten, um die gehirnstrukturellen und -funktionellen Besonderheiten bei hypermobilen Menschen, damit auch dem letzten Mediziner endlich klar wird: Hypermobilität ist mehr als nur biegbar sein. Da das Interview auf Englisch ist, gibt’s von mir eine kurze Zusammenfassung.


Hypermobilität und Propriozeption: Die verkannte Körperverbindung

In ihrer Forschung und klinischen Arbeit betont Dr. Jessica Eccles immer wieder, dass Menschen mit hypermobilen Körpern oft ein ganz anderes Empfinden dafür haben, wo sie sich im Raum befinden (gestörte Propriozeption). Sie sagt:

„Hypermobilität ist nicht einfach nur Biegsamkeit – es ist eine veränderte Art, wie der Körper gebaut ist. Die Struktur des Bindegewebes beeinflusst nicht nur die Gelenke, sondern auch das sensorische System, das Gleichgewicht, die Körperwahrnehmung.“

Gerade neurodivergente Menschen (mit ADHS, Autismus oder Tourette) berichten häufig von einem „komischen Körpergefühl“, Koordinationsproblemen oder der Neigung, sich zu stoßen, hinzufallen oder Gegenstände fallen zu lassen. Dr. Eccles beschreibt das mit einem charmanten Widerspruch:

„Das ist das Paradoxe – man trifft oft auf hypermobile Balletttänzer, die gleichzeitig ständig gegen Türrahmen laufen.“

Das heißt: Feinmotorisches Talent (z. B. für Musik oder Kunst) und eine gestörte grobmotorische Körperkoordination können koexistieren.

Propriozeption, Emotionen und ADHS – eine unterschätzte Verbindung

Ungewissheit darüber, wo sich der Körper gerade befindet, mündet in Stress. Denn das Gehirn arbeitet mit Vorhersagen. Wenn es allerdings kontinuierlich mit ungenauen Signalen über den körperlichen Zustand oder die Position konfrontiert wird – etwa durch ein „floppy“ Bindegewebe – entsteht laut Eccles eine Art permanenter Vorhersagefehler (prediction error).

„Dieses Missverhältnis zwischen dem, was das Gehirn erwartet, und dem, was es vom Körper zurückmeldet – das erzeugt Unsicherheit. Und Unsicherheit im eigenen Körper ist extrem unangenehm. Sie kann sich anfühlen wie Angst.“

Diese ständige innere Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und der körperlichen Wirklichkeit kann erklären, warum viele hypermobile Menschen mit ADHS oder Autismus auch mit Angststörungen diagnostiziert werden – obwohl die Ursache eigentlich körperlich ist.

Eccles beschreibt, dass bei Erwachsenen mit ADHS emotionale Instabilität oft das größte Problem ist – nicht (mehr) die Konzentration.

„Viele Erwachsene sagen mir: Es ist nicht das Aufmerksamkeitsproblem, das mich kaputtmacht – es ist die emotionale Achterbahn.“

Dazu gehören:

  • Stimmungsschwankungen
  • Rejection Sensitivity (Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung)
  • impulsive Reaktionen auf Stress

Ihre Studien zeigen: Diese emotionale Reaktivität hängt stark mit propriozeptiven Störungen zusammen – also mit der Unsicherheit darüber, wie sich der eigene Körper gerade anfühlt und bewegt.

By the way unterscheidet Dr. Eccles zwischen zwei Polen, in die Menschen mit ADHS geraten können:

  • Burn-out: totale Erschöpfung, Rückzug, Reizvermeidung.
  • Burn-up: überdreht, überstimuliert, reizoffen, aber innerlich überfordert.

„Burn-out ist das leere Batterie-Syndrom – Burn-up ist, wenn du überläufst.“

Viele ADHS-Betroffene bewegen sich ständig zwischen diesen Extremen – was Dr. Eccles auf die Verbindung aus einem „reaktiven Körper“ und einem „dynamischen, impulsiven Gehirn“ zurückführt.

ADAPT: Die Therapie, die den Körper wieder lesbar macht

Nicht zu wissen, was im eigenen Körper vorgeht, stellt Hypermobile jeden Tag vor große, unsichtbare Herausforderungen. Das Nervensystem, das eigentlich dafür zuständig ist, angemessen auf innere und äußere Reize zu reagieren, fliegt sozusagen blind und muss deshalb in den vorsorglichen Alarmmodus schalten.
Um die zugrundeliegende Ungewissheit aufzulösen, entwickelten Dr. Eccles und Kollegen ADAPT – Altering Dynamics of Autonomic Processing Therapy, mit dem Ziel, den Körper wieder spürbar und vorhersehbar zu machen.

„Was wir mit ADAPT tun, ist Interozeption und Propriozeption bewusst zu trainieren – also das Verständnis, was im Körper passiert, und wo er gerade ist. Das Ziel ist, dieses irritierende Überraschungsmoment im eigenen Körper zu reduzieren.“

ADAPT kombiniert:

  • Aufklärung über körperlich verursachte Symptome (z. B. Herzrasen bei POTS, Schwindel, Hitzeintoleranz)
  • Wahrnehmungstraining mit Hilfsmitteln wie Balance-Boards oder Widerstandsbändern
  • Körperarbeit zur Verbesserung von Rumpfstabilität und sensorischem Feedback
  • kognitive Reinterpretation: „Das ist kein Notfall, dein Körper ist einfach sehr sensibel.“

Diese Schulung reduziert die Fehlinterpretation körperlicher Zustände als „Gefahr“ – und verringert damit emotionale Überreaktionen.

„Wenn ich weiß, dass mein Herz nach dem Essen schneller schlägt, weil mein Bindegewebe zu locker ist, dann ist das kein Grund mehr zur Panik. Es ist mein Körper, der etwas Eigenes tut – und das kann ich lernen zu steuern.“

Die Zukunft liegt im Körper-Gehirn-Verständnis

Dr. Eccles verdeutlicht in diesem Interview wieder einmal sehr eindrucksvoll, dass viele sogenannte psychische Probleme – ob Panikattacken, emotionale Dysregulation oder chronische Erschöpfung – nicht losgelöst vom Körper betrachtet werden können. Besondern für Menschen mit ADHS oder Autismus gehört die Berücksichtigung der hypermobile Körperstruktur zu den Basics einer gelungenen therapeutischen Begleitung.