In einer aktuellen Veröffentlichung von Chalela und Russek (2024) gibt es einen neuen physiotherapeutischen Ansatz zu entdecken, der gezielt auf CCI eingeht. Darin wird ein klinisches Entscheidungsmodell beschrieben, das es ermöglicht, CCI sicher zu beurteilen und zu behandeln – ohne die Symptome durch unpassende Tests und Übungen zu verschlimmern.
Ein neues Entscheidungsmodell
Es waren einmal 17 motivierte Experten, denen aufgefallen war, dass es an standardisierten Leitlinien zur physiotherapeutischen Behandlung von CCI bei Hypermobilität fehlte. Sie setzten sich deshalb in den Kopf, etwas daran zu ändern und entwickelten ein Konsenspapier, das Antworten auf folgende Fragestellungen gibt (Russek et al., 2023):
- Wie erkenne ich CCI bei hypermobilen Patienten sicher?
- Welche Symptome und Tests deuten darauf hin?
- Welche Therapie ist bei welchem Schweregrad sicher durchführbar?
- Wie gehe ich mit psychosozialen Belastungen (Yellow Flags) und Warnzeichen (Red Flags) um?

Auf dem Prüfstand
Chalela und Russek (2024) illustrierten und erprobten die Anwendung des Modells wenig später an drei Probanden:
Jay (44 Jahre, männlich)
- Diagnose: CCI bei historischer Hypermobilität
- Symptome: Gangunsicherheit, Schmerzen, Schübe nach kleinsten Provokationen, vollständige funktionelle Einschränkungen, sehr langsame Erholung
Emma (40 Jahre, weiblich)
- Diagnose: hEDS, CCI, Chiari-Malformation, POTS
- Symptome: schwere kognitive Aussetzer, motorische Störungen, visuelle Störungen, Migräne, Bettlägerigkeit
Kay (30 Jahre, weiblich)
- Diagnose: hEDS, CCI, Tethered Cord
- Symptome: exteme neurologische Episoden, schwankende Lähmungen, starke Lichtempfindlichkeit, schwere Verschlechterung nach leichter Belastung
Die Schritte des Modells beinhalten:
1) Screening auf Red Flags und Yellow Flags
- Red Flags: neurologische Warnzeichen wie Sehstörungen, Ausfälle, starke Instabilitätsgefühle
- Yellow Flags: psychosoziale Belastungen, Angst, Überforderung, geringe Ressourcen
2) Einschätzung der Irritabilität anhand von drei Kriterien
- Schwere der Symptomatik
- leichte Auslösbarkeit
- Dauer bis zur Rückbildung der Beschwerden
Alle drei Probanden zeigte eine starke Irritabilität.
3) Auswahl sicherer Maßnahmen
- keine direkten Nackenübungen
- Fokus auf Haltungsschulung, Alltagssicherheit, Biofeedback, Training entfernt von der Halswirbelsäule (zum Beispiel die Lenden-Becken-Region)
Statt klassischer Nackenübungen anzubieten, verfolgten die Therapeuten einen neuroplastischen Ansatz – also ein gezieltes Umlernen von Bewegungs- und Steuerungsmustern im Gehirn.
Ziel: Verbesserte Kontrolle und Propriozeption ohne Provokation.
4) Evaluation
- Wenn keine Besserung eingetreten ist: operative Abklärung.
- Wenn Besserung eingetreten ist: Erweiterung der Bewegungsübungen und funktionelle Integration.
- Alles mit Berücksichtigung der täglichen Fluktuation des Beschwerdebildes.
Und was wurde aus Jay, Emma und Kay?
Jay zeigte trotz hoher Anfangsirritabilität und langer Bettlägerigkeit die besten Fortschritte:
Mit individuell angepasster, neuroplastisch orientierter Physiotherapie erreichte er vollständige Funktionsfähigkeit und kann heute wieder arbeiten.
Emma hatte mehrere Red und Yellow Flags und erlitt zunächst Rückschritte durch Therapieunterbrechung, stabilisierte sich aber nach operativer Fusion und gezielter Nachbehandlung soweit, dass sie Familie und Beruf wieder bewältigen kann.
Kay hingegen wies die schwerste Symptomatik auf, mit neurologischen Ausfällen und häufigen Flare-ups (starke und plötzliche Verschlechterung). Trotz Fusion und fortgeführter Physiotherapie blieb ihre Belastbarkeit stark eingeschränkt.
Kleine Schritte, große Fortschritte
Das Entscheidungsmodell von Russek und Kollegen (2023) und die wenig später erschienene Studie mit den Probanden Emma, Jay und Kay von Chalela und Russek (2024) macht deutlich:
Nicht jede Person mit CCI braucht sofort eine Operation. Denn die Anzahl und Schwere der Symptome zu Beginn können wie ein Kompass genutzt werden, der vorgibt, wie behutsam die Therapie starten sollte – sie bestimmen jedoch nicht den Verlauf. Wichtig ist ein individuelles Vorgehen, angepasst an die aktuelle Belastbarkeit, gut begleitet und stetig evaluiert. Erinnert euch: Auch kleine Schritte können große Fortschritte bedeuten – besonders dann, wenn sie zur richtigen Zeit gemacht werden. Ich finde es schön – besonders wenn ich zurückblicke – und sehr erbaulich, dass sich das auch immer wieder bestätigt.
Chalela, S., & Russek, L. N. (2024). Presentation and physical therapy management using a neuroplasticity approach for patients with hypermobility-related upper cervical instability: A brief report. Frontiers in Neurology, 15, Article 1459115. https://doi.org/10.3389/fneur.2024.1459115
Russek, L. N. et al. (2023). Presentation and physical therapy management of upper cervical instability in patients with symptomatic generalized joint hypermobility: International expert consensus recommendations. Frontiers in medicine, 9, 1072764. https://doi.org/10.3389/fmed.2022.1072764
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