Überall heißt es, COVID-19 sei gefährlich. „Stay home“ wurde vom freundlichen Appell zu einer Gesellschaftsbewegung, die nur Wenige in Frage stellen. Das Wohl zahlloser Schutzbedürftiger, darunter alte und chronisch kranke Menschen, steht schließlich auf dem Spiel. Alle schwimmen mit, selbst diejenigen, die aus gutem Grund befürchten, zu ertrinken.


BOOM!

Gefühlt sekündlich liefern uns Medien lauter auf den allerneusten Stand gebrachte Zahlen, an denen wir ablesen können, wie brutal und schonungslos das Corona-Virus unsere Mitmenschen attackiert und schlimmstenfalls sogar tötet. Die Menge der Erkrankten erscheint riesig. Nicht zu vergessen die uns unbekannte Dunkelziffer Infizierter, die das todbringende Übel unwissentlich in sich tragen und bei Kontakt mit Gesunden explosionsartig verbreiten wie getroffene Tretminen. Nur eine falsche Bewegung – BOOM!

Dann sehen wir Bilder aus Italien. Wir sehen Ärzte und Pflegepersonal, die wie Kämpfer an der bombardierten Front die Stellung halten. Wir sehen Leid und Tränen. Wir sehen Särge. Wir sehen zu, wie Menschen, die nicht anders sind als wir, die Kontrolle verlieren und von ihren Emotionen überschwemmt werden. Wir sehen Teile unserer Welt instabil werden, sehen sie zerbrechen und uns dämmert: Unsere eigene Zukunft könnte genauso dunkel werden.

Alles für ein Ziel, dem man nicht widerspricht

Niemand von uns will so eine Zukunft. Wir alle wollen weiterhin selbst bestimmen, was aus uns wird und mindestens genauso sehr wollen wir uns als wichtigen Teil der Lösung wahrnehmen (und wahrgenommen werden).

Also kappen wir soziale Brücken, sodass unserem unsichtbaren Feind die Möglichkeit, von Mensch zu Mensch zu springen, verwehrt wird. Wir isolieren uns, ändern unser Verhalten. Wir kaufen Unmengen Klopapier und Mehl, als brächte uns das Sicherheit. Wir leben, so gut es geht, geduckt, zerstören unsere Lebenswerke, unsere Perspektiven und unsere Freiheit. Alles für ein Ziel, dem man nicht widerspricht. Alles zum Schutz derer, die wir bislang bedenkenlos übersehen haben.

Das ist eben so

Denn vielleicht erinnert ihr euch: Normalerweise nehmen wir in Kauf, dass es anderen Menschen schlechter ergeht als uns selbst. Wir leben mit dem Wissen, dass andere qualvoll hungern, kein Dach über dem Kopf haben oder regelmäßig Gewalt erfahren. Das ist eben so. Wir wissen, dass Alleinerziehende täglich um die Chance auf ein besseres Leben für sich und ihre Kinder kämpfen, aber keine erhalten. Das ist eben so. Wir wissen, dass chronisch Kranke das Gros ihrer Behandlungskosten oft selbst bezahlen müssen und wir wissen, dass daraus Verzweiflung erwächst, die viele Betroffene, darunter Mütter und Väter, in den Suizid treibt. Du und ich, wir wissen außerdem, dass zahllose Kinder regelmäßig misshandelt, gedemütigt und zu Tode vernachlässigt werden. Das ist eben so. Wir wissen, dass unsere Vorliebe für billige Mode mitverantwortlich für die Ausbeutung zahlloser Menschen in Entwicklungsländern ist, doch das ist eben so. Wir kaufen uns Luxusgüter, obwohl unser Überschuss an Geld vielen Hungernden eine warme Mahlzeit geben, einem oder gar zwei Obdachlosen eine Ausbildung finanzieren oder die Behandlungskosten für eine Handvoll Kinder eines Landes decken könnte, in dem Familien sich für die Beschaffung von gewöhnlichen Medikamenten in den Ruin begeben müssen. Und weil unser Drang nach Besitz nicht warten kann, betreten wir mit Schniefnase zahllose Modegeschäfte, kaufen uns Zeug, was wir nicht wirklich brauchen, und stecken andere Menschen mit Viren oder Bakterien an. Einige von ihnen werden deshalb sterben. Das ist eben so.

Corona schafft das

Viele Dinge, die passieren dürfen, sind unfair und schädigen andere. Genaugenommen müssten sie nicht passieren, aber dennoch lassen wir sie zu, ohne uns verantwortlich zu fühlen. Das ist so, weil in der Regel niemand über schlimme Dinge spricht und worüber nicht gesprochen wird, das stellt für uns eben keinen Grund dar, etwas zu verändern, geschweige denn uns selbst zu ruinieren, so wie jetzt, indem wir die Weltwirtschaft an die Wand stellen und mit übergroßen Geschossen durchlöchern.

Corona hingegen schafft das. Indem es bedroht, was wir um nichts in der Welt beschädigt sehen wollen; indem es jedem von uns die Illusion raubt, nichts für andere ausrichten zu können; indem es uns an den Pranger stellt, sobald der Verdacht entsteht, dass durch uns jemand zu Schaden gekommen sein könnte; indem es uns eine ungewollte und zugleich ausweglose Entscheidung abverlangt: Sind wir Arschlöcher, die den Tod Schwächerer in Kauf nehmen, oder sind wir Retter? Die Antwort steht selbstverständlich nicht zur Diskussion. Wir alle hängen an unserem positiven Selbstbild, wollen Retter sein, nicht wahr? Und davon abgesehen:

Glück im Unglück?

Der Wandel, der nun passiert, sieht doch recht vielversprechend aus – wenn auch erst auf den zweiten Blick. Menschen rücken trotz Isolation näher zusammen, helfen einander und erkennen, worauf es wirklich ankommt. Unter all dem Leid scheint sich Corona als wahrer Glücksbringer zu entpuppen, der die Welt von allem, was schlecht für sie ist, reinigt und eine neue, gesunde Gesinnung in die Köpfe der Menschen pflanzt.

Corona lässt uns erwachen. Denn da das Außen für jeden von uns unerreichbar geworden ist, dürfen wir erkennen, wie viel Glück sich ganz in unserer Nähe finden lässt. Wir verbringen Zeit mit unseren Kindern und Partnern, lernen sie innerhalb veränderter Bedingungen neu kennen und erschaffen gemeinsam Möglichkeiten, unser Leben schön zu gestalten. Vielleicht empfinden wir mittlerweile sogar Dankbarkeit und können uns auf das, was aus Corona wird, mit Neugier und Vorfreude einlassen.

Kein Ausweg

Vielleicht ist es aber auch ganz anders. Vielleicht hat nicht jeder eine liebevolle Familie. Vielleicht gibt es Kinder, die nun gezwungen sind, pausenlos bei ihren alkoholabhängigen Eltern zu verweilen. Vielleicht gibt es Frauen und Männer, die ab jetzt keine Möglichkeit mehr haben, den Demütigungen und körperlichen Attacken ihres Partners aus dem Weg zu gehen. Vielleicht brechen in diesem Moment die Herzen zahlloser Großeltern, die in Pflegeheimen leben, da sie ihre Kinder und Enkelkinder vermissen. Vielleicht gibt es Menschen, die seit Wochen weinen, weil das Eingesperrtsein sie um den Verstand bringt und weil sie nicht wissen, woher sie das Geld nehmen sollen, sich zu versorgen. Vielleicht hat nicht jeder von uns einen großen Garten, in dem er seine gelangweilten Kinder spielen lassen kann, oder einen Balkon. Vielleicht gibt es Menschen, die nicht einmal jemanden finden, mit dem sie reden können.

Danach

Zum Beispiel darüber, was danach kommt. Darüber, wie viele Menschen durch den Verlust ihrer Arbeit, durch soziale Isolation und Perspektivlosigkeit Depressionen und Suizidgedanken entwickelt haben werden. Darüber, ob es den weltweiten Gesundheitssystemen mehr Schaden als Entlastung bringen wird, Millionen von Menschen den Aufenthalt im Freien zu verbieten. Darüber, ob es infolge dieses wirtschaftlichen Selbstmords überhaupt noch genug finanzielle Mittel geben wird, die ein für alle verfügbares Gesundheitssystem aufrechterhalten können. Darüber, was mit unserer Gesundheit passiert, wenn wir aufhören, uns der Sonne auszusetzen. Auch ohne Ausgangssperre oder Quarantäne bekommen wir davon viel zu wenig ab, sodass unser Vitamin D-Vorrat kaum genügt, um dort im Körper richtig mitwirken zu können, wo er gebraucht wird. Je weniger des Sonnenhormons wir produzieren, umso depressiver werden wir, unsere Knochen werden brüchiger, unsere Wundheilung unzuverlässiger und wir werden infektanfälliger. Dazu zählt auch Corona.

Vielleicht gibt es einige Einsame, die mir eine plausible Antwort darauf geben können, was es nützt, Corona erfolgreich davonzulaufen, wenn man sich zugleich angreifbarer macht. Und vielleicht wissen manch andere sogar eine Antwort auf die Frage, ob uns all die Opfer, die wir derzeit bringen, am Ende wirklich zu Rettern macht oder vielleicht eher zu Vollidioten…