Wie ich mitbekommen habe, wird in deutschen Kinos bald eine als skandalös verschriene Dokumentation ausgestrahlt. Sie heißt „Die Elternschule“ und ich gestehe: Noch bin ich mir gar nicht sicher, was ich damit anfangen soll. Der Titel stimmt mich grantig, so viel kann ich im Moment überblicken.


Zugegeben, Kinder können oftmals richtig herausfordernd sein. Besonders wenn sie bocken, entwischen, trödeln, kratzen, ignorieren, verschwenden, schreien, stampfen, flunkern, vergessen, beleidigen, verletzen, beschmutzen, verweigern – und wir uns keinen Rat wissen. Dann rätseln wir, was wir falsch gemacht haben und wieso unsere Kinder so schwierig sind. Und das, obwohl sie demgegenüber allerhand tolle Eigenschaften besitzen – wie auch Erwachsene, nur eben in Kleinformat.

Kinder sind eben keine Saugroboter

Aber mal unter uns: Das Einzige, was man Kindern wirklich vorwerfen kann, ist, dass sie keine Saugroboter sind. Sie lassen sich partout nicht dazu programmieren, alles zu schlucken, was man im Laufe des Tages unüberlegt der Erdanziehungskraft überlässt. „Das sollten sie aber“, denken wir verärgert, schließlich sind wir älter und reifer und erfahrener und verdienen das Gefühl, beachtet zu werden.

Kinder lernen, was sie begeistert

Kinder sind außerdem Neuankömmlinge in unserer Welt. Vieles, was wir bereits wissen, müssen sie erst lernen. Nicht umsonst sind sie mit großer Neugier und sprudelnder Begeisterungsfähigkeit ausgestattet. Diese wertvollen Werkzeuge sind den meisten von uns längst abhanden gekommen, doch sobald wir sie bei unseren Kindern wiederentdecken, klammern wir uns sehnsuchtsvoll daran fest, reißen sie an uns und zerstören sie wie Porzellan, das uns tollpatschig aus den Händen gleitet. Haben wir vergessen, dass die Neugier und Begeisterungsfähigkeit unserer Kinder ausschließlich ihnen gehört?

Wo liegt das Problem?

Nachdem wir sie uns zu eigen gemacht haben, liegt uns viel daran, mit gut gemeinten Förder- und Schul-Programmen zu bestimmen, wofür die schier unerschöpfliche Neugier und Begeisterung unserer Kinder investiert werden sollen. In ziemlich exaktem Ausmaß schwebt uns vor, was unser Spross wann und wie schnell zu lernen hat. Dass dieses Vorhaben so gut wie immer misslingt, erkennen wir, sobald wir mit den Schulleistungen der Kleinen unzufrieden sind oder sich ein Einser-Schüler als Bulimie-Lerner outet, der im Grunde nicht einmal weiß, wozu er jahrelang Jahreszahlen, Formeln und Klimadiagramme auswendig lernen und mangels Interesse wieder vergessen musste. Dabei ist die Lösung weiß Gott gar nicht so schwer: Kinder lernen, was sie begeistert – wie auch Erwachsene, nur eben in Kleinformat.

Wo genau liegt für uns nun das Problem? Ganz einfach: Oftmals sind diese interessanten Dinge weit weg von dem, was wir für unsere Kinder als bedeutsam auserkoren haben. Unerhört!

Was verlangen wir unserem Spross schon Großartiges ab? Gehorsam, Disziplin, Ernsthaftigkeit, Ruhe, Manieren, mathematisches Geschick und allerhand mehr von diesen mysteriösen Eigenschaften, die man nun mal braucht, um als funktionierender Teil unserer Gesellschaft durchzugehen. Kaum auszudenken, wohin es Kinder verschlagen würde, kämen sie auf die Idee, aus der im Gleichschritt marschierenden Masse zu tänzeln, nicht wahr? Dann hätte jeder plötzlich sein eigenes Ziel, an dem er nicht um jeden Preis als erster ankommen müsste. Wohin dann mit unseren ausgefahrenen Ellenbogen?

Ich entscheide!


Mir fällt gerade ein, neulich sagte unsere Tochter etwas gänzlich Unstaubsaugermäßiges. Ich fand es großartig, denn in ihrem Alter (ich war übrigens auch „herausfordernd“) wäre mir etwas so Kluges nie in den Sinn gekommen. Sie sagte:
„Ich entscheide selbst, was ich will!“ Dem einen oder anderen mag dieser Satz pampig vorkommen, doch bei genauerer Überlegung könnte man darüber glatt neidisch werden, nicht? Zumindest mir geht es so. Denn wer kann heutzutage schon behaupten, dass er seine Entscheidungen selbst trifft? Ich für meinen Teil tue es nur dann, wenn ich es schaffe, Werbung, Fernsehen, Politik, Besserwissern und dergleichen keine Beachtung zu schenken und stattdessen mein Bauchgefühl zu erhören.

Doch wer hört schon auf seinen Bauch? Man tut, was andere tun, um nicht in Erklärungsnot zu geraten. Oder gar in unerforschtes Terrain. Das Dumme daran ist nur, dass Kinder präzise erkennen, wenn Mama und Papa sich nicht entsprechend ihrer Wünsche verhalten. Auf die Kleinen macht so etwas keinen besonders guten Eindruck. Denn was bedeutet es, wenn Mutter- und Vatertier nicht Herrin und Herr ihrer Entscheidungen sind, sondern jemand oder etwas anderes? 

Bedrohung

Wenn Eltern sich anders verhalten und anders über Dinge sprechen, als ihre unbewussten, aber ehrlichen Körpersignale es bei ihren Kindern vermuten lassen, gerät der Nachwuchs in einen Konflikt. Einerseits betrachten Kinder ihre Eltern als Beschützer, die größtmögliche Sicherheit bereitstellen. Andererseits entpuppen sie sich als mundtot gemachte Mitläufer, über die Macht ausgeübt werden kann – was nicht besonders nachahmenswert erscheint. Für ein Kind, dessen Bedürfnis nach Sicherheit immens hoch ist, fühlt sich diese Konstellation äußert bedrohlich an. Dann wird es besorgt und ängstlich. Oder wütend. Nicht allein wegen seiner Eltern, sondern weil es selbst in diesen Zwiespalt hineinerzogen wird. Es lernt, sich widersprüchlich zu verhalten. Es lernt, dass die Wichtigkeit seiner Bedürfnisse fremdbestimmt ist. Der Frust darüber und der Schmerz, der innerlich brodelt, aber nicht heraus darf, werden gemäß aller Erwartungen beiseitegeschoben. Zumindest solange, bis das Fass voll ist und explodiert. Vielleicht ist das der Zeitpunkt, an dem Eltern nach einer Elternschule Ausschau halten. Manche finden sie eingebettet in einer Klinik. Manche, die es schaffen, sich zu erinnern, finden sie hoffentlich in ihren Bäuchen – wenn ihr mich fragt, dem einzig wahren Sitz einer „Elternschule.“

Doch wie dieser Film, „Die Elternschule“, auch immer gestaltet sein mag, ich finde es gut, dass er Themen bewusst werden lässt, in die jeder für sich hineinfühlen sollte. Sobald ich ihn gesehen habe, gebe ich eventuell nochmals meinen Senf dazu ab.

(Foto: cottonbro – pexels.com)