Jemand, der an Gott glaubt, tut dies, weil es einfach ist. Das dachte ich früher. Denn wer an Gott glaubt, glaubt auch an das Schicksal und wer an Schicksal glaubt, überlässt die Verantwortung für sein Tun einem willkommenen Hirngespinst, durch das Fehltritte wie Puzzleteile einer höheren Absicht erscheinen. Eigentlich ein attraktives Konzept.


Wie ich Jesus kennenlernte

In der kleinen Dorfkirche, schräg gegenüber von meinem Zuhause, lernte ich damals Jesus kennen. Anders gesagt: sein hageres, blutendes Abbild, das wie Trockenfleisch an einem Stück Holz hing. Jedes Jahr an Heiligabend saß ich diesem gequält aussehenden Mann gegenüber und fror mir auf einer der eiskalten Holzbänke die Sitzknochen taub.

Warum Menschen Kirchen besuchen, war mir angesichts dieser Unbehaglichkeit ein wahres Rätsel. Ich dachte, wenn es einen Gott gibt, hält der sich mit Sicherheit nicht nur an solchen eiskalten Orten auf, schon gar nicht zu festgelegten Terminen. Gott, überlegte ich mir, muss es überall, für jedermann und zu jeder Zeit geben. Andernfalls ist das, was die Menschen anbeten, kein Gott, sondern nichts weiter als eine Erfindung. Erfindungen lassen sich durchschauen, Gott ganz sicher nicht.

Leere

Mit fünf oder sechs kam mir unsere Welt erschreckend leer vor. Jedenfalls wenn ich sie durch die Brille eines Erwachsenen betrachtete. Meine Mutter trug so eine Brille und jedes Mal, wenn ich sie mir zum Spaß aufsetzte, wurde ich traurig. Ich sah unsere Welt als versehentlichen Tintenklecks auf einem großen schwarzen Blatt Papier verschwinden. Ich sah, wie unglücklich meine Mutter in dieser Welt war und ich sah das Gleiche auch in den Augen der Menschen, die draußen meinen Weg kreuzten. Der Zufall hatte uns auf ein Schiff gesetzt, das im Kreis segelt. Das Leben selbst war dieses Schiff und ich fragte mich, wie jemand so viel Bedeutungslosigkeit bis zu seinem Ende ertragen könnte. Ich wusste, ich kann es nicht.

Zwischen den Stühlen

Wie es aussieht, glaubte ich einerseits nicht so recht an Gott. Doch angesichts der bedrückenden Leere wünschte ich mir seine Nähe. Ich wünschte mir Bedeutung.

Recht bald stellte ich fest, dass mir dieser Wunsch ein überraschend großes Angebot eröffnete. Denn es gab eine Vielzahl Gottheiten, zwischen denen ich auswählen konnte. Es gab altmodische Götter und die moderneren Exemplare. Ich war fasziniert, mit wie viel Liebe zum Detail sich Menschen ihre Allmächtigen erschufen – das Universum schien für jedwede Vorliebe das passende Bauteil parat zu haben. All das schloss für mich aus, dass es einen Schöpfer gibt, geschweige denn eine Wesenheit, die mir zeigt, worin der Sinn des Lebens steckt. Würde es ihn geben, müsste doch mehr Einigkeit herrschen und weniger Hader.

Das ewige Leid

Mit der Zeit stieß ich auf die Frage aller Fragen: Wenn es einen Gott gibt, warum lässt er zu, dass so viele von uns leiden müssen? Warum zeigt er seine Macht nicht, indem er Unheil abwendet? Heute erscheint mir diese Frage unüberlegt. Gäbe es kein Leid, wäre das nicht automatisch ein Beweis für Gottes Dasein. Nein, es hieße allenfalls, dass plötzlich nichts mehr da wäre, von dem sich unser Glück unübersehbar unterscheiden könnte – wodurch es schlimmstenfalls unsichtbar für uns würde. Man könnte neckisch sagen: Indem wir hin und wieder leiden, geben wir Gott die Gelegenheit, uns ab und zu davor zu bewahren.

Ist Leid also Gottes Art, sich uns zu beweisen?

An dieser Stelle möchte ich kurz einhaken. Merkt ihr etwas? Ich habe Gott mit Leid in Verbindung gebracht, so, wie viele von uns, die sich die Frage stellen, warum Schlimmes auf der Welt geschieht. Wir Menschen haben scheinbar starke Schwierigkeiten, uns selbst als verantwortlich zu sehen und zwar unabhängig von unserem Glauben. Würde dies besser gelingen, käme uns sicherlich nicht in den Sinn, die Konsequenzen jemand anderes zur Last zu legen. Wenn wir also mal ehrlich sind: Wie viel des Leides haben wir uns selbst zu verdanken? Und wie viel der Befreiung ist Gott uns unter diesem Aspekt tatsächlich schuldig?

Gott wegargumentieren

Auf der Suche nach Argumenten gegen Gott, tauchen rasch die Begriffe „Himmel“ und „Hölle“ auf. Im Himmel sitzt Gott in freudiger Erwartung auf die ihm treuen Gläubigen. In der Hölle, ein aus Feuer und Glut gebautes Gefängnis tief unter der Erde, sitzt der Teufel, der über die Sünder gebietet. Freilich hat noch nie ein Pilot über seine Begegnung mit einem gottgleichen Wolkenbewohner berichtet noch ist einer unserer Höhlenforscher versehentlich durch die Flure des Teufels gekrochen. Himmel und Hölle müssen folglich Fantasieorte sein. Und wo kein Himmel ist, ist auch kein Gott.

Auch ich glaube nicht, dass es einen plastischen Himmel gibt oder eine Hölle. Selbst ein Gott könnte unmöglich sagen, wer die Ewigkeit im Paradies oder im Feuer verdient hätte – Sünder sind wir schließlich alle. Doch wo sollte die Grenze zwischen Gut und Böse gezogen werden? Ich denke, wenn überhaupt, kommen wir nach unserem Tod alle an ein und denselben Ort, nämlich in den metaphorischen Himmel. Und der einzige, der dort über unsere Taten richtet, wird jeder für sich selbst sein. Einen strengeren Richter kann ich mir bei aller Fantasie nicht vorstellen.

Ist Gott rückständig?

Wie es aussieht, sind Himmel und Hölle eher schwammige Argumente. Doch wie wir alle gelernt haben, erwuchsen die finstersten Jahrhunderte unserer Geschichte aus der unvorstellbaren Furcht der Menschen vor göttlicher Ablehnung. Somit ist Gott sicher vielen Leuten sehr unsympathisch und sie verbinden ihn, inbesondere da wir uns in fortschrittlichen Zeiten wähnen, mit Rückständigkeit.

Doch Religion und Glaube sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Sie in einen Topf zu werfen, wäre gegenüber Gott, sollte er denn existieren, überaus unfair (wenn ich das so formulieren darf). Religion umgibt sich mit riesigen, fensterlosen Mauern, hinter denen der Rest der Welt mit Eiern nach ihr wirft. Doch der Glaube ist uns allen gemeinsam, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Glaube ist letztendlich nämlich das, was eine Vielzahl von Menschen in die gleiche Richtung lenkt, ohne dass es zu Chaos kommt. Das wiederum ist sehr wichtig, um Fortschritt zu erreichen. Im Tierreich wäre so etwas niemals möglich.

Jeder glaubt an etwas

Jeder glaubt also an etwas. Sei es an Gott, sei es an Gesundheit, sei es an Frieden oder der Glaube an sich selbst. Der Glaube ist ein unvorstellbar großes Potential, mit dem jeder von uns Großes erschaffen, gesund werden oder Frieden säen kann. Unser Glaube macht aus uns Schöpfer. Und weil das so ist, existiert Gott für mich. In jedem von uns.

Mein Leben ist durch meinen Glauben übrigens nicht einfacher geworden. Im Gegenteil. Wenn ich versuche, meine Fehler Gott in die Schuhe zu schieben, treffe ich kurzerhand mich selbst und muss die Konsequenzen ganz allein bewältigen. Trotzdem ist es mit Gott um Welten schöner. Denn mit ihm weiß ich, dass mir alles, selbst das Unmögliche, gelingen kann. Ich muss nur daran glauben.